Der Sauerteig-Effekt: Es gärt was richtig Gutes

Er muss gefüttert werden wie ein Baby. Nur dann wächst und gedeiht er. Aber wer ihn liebt, scheut keine Mühen. Denn der Sauerteig ist ein wahres Gesundwunder zum Beispiel für Darm, Herz und Blutzucker.

Sauerteig-Anstellgut zum Backen© iStock/karma_pema

Lactobacillus plantarum. Lactobacillus brevis, Saccharomyces cerevisiae, Gärungs-Kohlenstoff- dioxid... Beim Lesen wird einem mulmig im Magen. Gedanken an Food-Zutatenliste mit alarmrotem Nutriscore.

 Doch genau das Gegenteil ist der Fall bei diesem kleinen Auszug der Sauerteig-Inhaltsstoffe. Ihre Kombi und Vielfalt ist der Burner. Voll im Trend. Vor allem seit Corona. Als die Deutschen gesünderes Sauerteig- Brot selbst gebacken haben. Und seitdem so beliebt, dass es in der Schweiz sogar ein Sauerteig-Hotel gibt. Dort kann jeder seinen eigenen Sauerteigansatz z. B. während des Urlaub in Pflege geben. Nicht zu vergessen die neuen Pinsa-Pizzen aus Sauerteig. Das ist der trendige Sauerteig-Effekt. Es gibt aber auch den gesunden, den aromatischen, den geschichtlichen Sauerteig-Effekt, Anwendungs-Gebote... Lesen Sie selbst.

Da ist ordentlich was los im gärigen Aroma-Teig. Seine Mikroorganismen tummeln sich dicht an dicht. Sie haben Geschichte geschrieben. Und sind seit 30 Jahren für Wissenschaftler ein attraktives Studienobjekt.

Wer sich einen Sauerteig mal unterm Mikroskop anschaut, dem springt ein wildes Gewimmel entgegen. Von mehr als 70 wilden Hefen aus der Luft wie Candida spp. oder 50 verschiedene Arten von Milchsäurebakterien. Das hat jetzt eine wissenschaftliche Untersuchung der American Society for Microbiology ergeben. Einige der Gesund-Keime kommen natürlich auch vom Profi-Bäcker oder „Hobby-Kneter“ selbst, von Backutensilien, der Arbeitsfläche, schließlich auch aus dem zugefügten Wasser, Mehl. So bekommt jeder Sauerteig sein ganz individuelles Mikrobiom, das es so nirgendwo auf der Welt ein zweites Mal gibt. Das ist so wie mit unserem Fingerabdruck. Die Öko-WG der Mikroorganismen stemmt z. B. im Schulterschluss den Teig in die Höhe, macht fluffige Löcher ins Brot. Sie sorgt aber auch für den ganz besonderen, würzigen Sauerteig-Geschmack. Und nicht zu vergessen: Sie sind Natur-Docs, die uns gesund halten. Und so arbeiten die Hefen und Milchsäurebakterien: Wird Mehl mit Wasser angerührt und stehen gelassen, vermehren sie sich bei Zimmertemperatur. Vollkornmehl enthält übrigens die meisten dieser Mikroorganismen, weil sie sich auf den Randschichten der Getreidekörner tummeln. Und die sind im Vollkornmehl vollumfänglich enthalten. 

Die Milchsäurebakterien nun vergären den Mehlbrei. Es entstehen Milch- und Essigsäure. Zusammen mit den Hefen sorgen sie für den sauren Geruch – damit für Geschmack. Die Hefen sind hauptsächlich für den lockeren Teig zuständig. Der Sauerteig hat übrigens eine lange Geschichte. Food-Archäologen der North Carolina State University sind sich sicher, dass Sauerteig bereits vor 12.000 Jahren bei den Steinzeitmenschen en vogue war. Und nachweislich waren schon die alten Ägypter vor 5.000 Jahren große Sauerteig-Fans. Der Legende nach hat ihn die ägyptische Göttin Isis erfunden. Die Herrin der Magie mischte Wasser und Mehl. Es entstand der Sauerteig. Auch die Römer aßen „gesäuertes“ Brot. Glaubten daran, dass sie davon kräftiger werden. Es dauerte aber bis ins späte 19. Jahrhundert, bis die gärigen Sauerteig-Erfahrungen für die Gesundheit wissenschaftlich als Sauerteig-Effekt untermauert wurden. Das schaffte der französische Biochemiker, Mitbegründer der medizinischen Mikrobiologie, Louis Pasteur. Er kam der Rolle der Mikroben im Fermentations-Prozess auf die Spur. Damit ihrer Gesund-Wirkung.

Das Aroma-Mysterium

Immer mehr Bundesbürger sind verrückt nach Backwaren aus Sauerteig. Warum nur? Ein Jahrtausende altes Geheimnis. Erst 2023 ist es endlich gelüftet worden.

Eine knackige Kruste mit dunkler, fein bitterer Röstnote. Das Brotinnere saftig, mild säuerlich mit einem Hauch von Apfelessig... Das verlockende Aroma von Sauerteig war Jahrhunderte lang ein Geheimnis. Gelöst wurde es erst 2023 von Wissenschaftlern der Technischen Universität München. Sie haben zehn bei der Gärung entstehende Schlüssel-Geschmacks-, elf -Geruchsstoffe entdeckt. Genau diese ganz besonde- re Kombination macht das einzigartige Aroma des Sauerteigs aus. Die beiden wichtigsten Geschmacks-Geber sind Milch- und Essigsäure, die sich im Teig während der Fermentation durch Milchsäure-Bakterien und Hefen bilden. Für das charakteristi- sche, vollmundige Aroma muss der Sauerteig aber vor allem möglichst lange vor sich hin gären. In aller Ruhe.

Die Gesundmacher-Qualitäten

Von Diabetes bis Herzschutz – valide, internationale Studien belegen die enorme Präventions-Kraft von Sauerteig.

Der viel gepriesene und oft zitierte „Sauerteig-Effekt“ dreht sich einzig und allein um unsere Gesundheit. Genau genommen handelt es sich dabei aber nicht nur um einen einzigen Effekt, sondern um eine Allround-Wirkung auf den Organismus. Fangen wir mal mit dem Diabetes Typ 2, also dem Alters-Diabetes, an. Um den Blutzuckerspiegel zu kontrollieren, sollten „Zuckerkranke“ auf den Glykämischen Index (GI) von Nah- rungsmitteln achten. Er ist nämlich ein Maß dafür, wie schnell und stark kohlenhydrathaltiges Food den Blutzuckerspiegel ansteigen lässt.

Deswegen sollte er möglichst niedrig gehalten werden. Eine brasilianische Studie der Universidade Federal de Minas Gerais zeigt, dass 30 Gramm eines Weißbrots einen hohen GI von 71 haben, während 30 Gramm Sauerteigbrot bei niedrigen 54 liegen. Kommen wir nun zum Reizdarm. Eine FODMAP-arme Ernährung mit wenig Kohlenhydraten und Zucker-Alkoholen bessert seine Leitsymptome Blähungen und Bauchschmerzen. Und hier kommt der Sauerteig ins Spiel: Seine lange Teigführung von bis zu 48 Stunden mit intensiven Ruhe- und Reifezeiten baut blähende FODMAPs beeindruckend ab. 

Auch auf das Mikrobiom des Darms wirkt Sauerteig Wunder. So haben Forscher der italienischen Universität Bari herausgefunden, dass der Verzehr von 200 Gramm Sauerteigbrot pro Tag die Produktion von kurzkettigen Fettsäuren, den Butyraten, ankurbelt. Sie sind ein Leckerbissen für die Darm-Bakterien, stärken das körpereigene Sicherheits-System der Darmbarriere. So senkt Butyrate-Fettsäure z. B. das Darmkrebs-Risiko. Und auch Menschen mit chronisch entzündlichen Darmerkrankungen wie Colitis ulcerosa oder Morbus Crohn profitieren deshalb von Sauerteigbrot. Stammt sein Mehl aus Roggen, Dinkel oder Hafer, ist es übrigens auch ein großer Herzschützer durch seine enorme Anzahl an Ballaststoffen. Vor allem sein natürlicher Fermentierungsprozess schraubt aber seine Schutzwirkung im Vergleich zu anderen, ballaststoffreichen Broten raketengleich in die Höhe. Das berichtet die University of Eastern Finland in Kuopio. Schließlich ist es eine Übergewichts-Bremse. Denn Sauerteig macht schneller satt. Und das Sättigungs-Gefühl hält klar länger an, so die Universität Neapel.

Die vier Gebote

Egal, ob Sauerteig aus Weizen, Roggen, Dinkel, Emmer oder Hafer: In diese häufigsten Fehler-Fallen sollte man besser nicht tappen, sonst gibt‘s Back-Frust.

  1. Auf die richtige Temperatur achten. Ein Sauerteig geht nämlich am besten bei einer Temperatur zwischen 26 und 30 Grad auf. Und er bekommt nur dann ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Milch- und Essigsäure – und schmeckt optimal aromatisch.
  2. Sauerteig nicht überstürzt verarbeiten. Nach z. B. zwei oder drei Tagen ist die Sauerteig-Kultur noch nicht stabil genug. Es fehlt ausreichend Säure und Triebkraft. Das Brot wird dann innen nass und klebrig, außen steinhart. Auch bei Überreife. Zu erkennen an einer eingefallenen, angetrockneten Oberfläche.
  3. Aktribisch wie ein Wissenschaftler im Labor den Gärzustand kontrollieren. Einmal mit Sichtkontrolle, ob die Mischung kräftig „bubbelt“. Oder mit Fingertest. Ist der Sauerteig-Ansatz zu fest, muss er weiter reifen.
  4. Optimaler Verarbeitungs-Zeitpunkt: Der Sauerteig-Ansatz sollte sein Volumen deutlich vergrößern, die Oberfläche nach oben wölben. Und säuerlich-aromatisch, aber nicht penetrant nach Essig riechen.

Das Back-Equipment

Zur Not tut es zwar ein großes Gurkenglas mit Schraubdeckel. Aber erst ein gut durchdachtes, aufeinander abgestimmtes Starter-Set bietet ein Rundum-Sorglos-Paket für eine Sauerteig-Kultur. Und es kostet gerade mal ab 30 Euro.

Damit es keine Begriffs-Verwirrung gibt: Hier geht es ums Equipment fürs Anstellgut, also für die Starterkultur, um Sauerteig überhaupt erst herstellen zu können. Und nicht um Back- Utensilien für den Broteig selbst. Also: Damit die Sauerteig-Kultur nun optimal gelingt, sollte das Starter-Gefäß am besten aus Glas bestehen, damit der Gärprozess gut beobachtet werden kann. Es sollte ungefähr ein Volumen von mindestens 500 bis 650 ml haben, damit die Starter-Kultur ungehindert gären kann. Die Glas-Öffnung sollte so groß sein, dass sie sich optimal füttern lässt. Der Deckel sollte allerdings nur ein kleines Loch haben, das die Sauerstoff-Zufuhr für den Gärprozess garantiert. Gut möglich ist es auch, das Glas mit einem Leinentuch abzudecken. Zum Vermischen von Wasser und Mehl empfiehlt sich ein Holzspatel mit einer abwaschbaren Silikonspsitze. Das verhindert unerwünschte Küchenkeime. Und ganz wichtig: ein aufklebbares Thermometer für die perfekte Glastemperatur.

Die optimale Fütterung

Sauerteig ist klassisches und so gesundes Backtriebmittel für Brote. Ist er gut und lange genug gefüttert, wird er zur Aroma-Bombe. Und so geht‘s.

Der erste Sauerteig-Ansatz (Anstellgut) braucht drei Tage Zeit. Am ersten Tag werden 50 g Mehl der Wahl mit 50 ml handwarmem Wasser vermischt. Am besten eignet sich Roggen-Vollkornmehl. Aber auch Hafer, Dinkel, Emmer. Die Mischung bleibt für 24 Stunden in einem Starterset-Glas (siehe oben) in einem zimmerwarmen Raum stehen. An den nächsten beiden Tagen den Ansatz vom Vortag wieder mit jeweils 50 g Mehl und 50 ml Wasser füttern, Glas zuschrauben. Spätestens am dritten Tag sollten sich blubbernde Blasen bilden und das Volumen des Teigs deutlich zunehmen. Sicherer Schnuppertest für die Reife: Ein gelungener Sauerteig riecht angenehm säuerlich, auf keinen Fall beißend!. Dann ist er bereit zum Backen. Ein Sauerteig-Rest kann aber auch immer weiter verwendet werden. Dafür muss er einfach nur „geführt“ werden. Entweder bekommt er jeden Tag wieder Mehl, Wasser und reift für weitere Brote heran. Oder er pausiert erstmal für ein bis zwei Wochen im Kühlschrank. Tipp: Sauerteig lässt sich haltbar machen, wenn noch einmal 100 g Mehl dazu gegeben werden. Er wird dann fester, ist im Kühlschrank ca. drei Monate haltbar. Bei Wiederverwendung Wasser dazu geben. 

Das Blitz- Rezept

Iss dich GESUND gilt auch hier: Wegen seiner hohen Dichte an Ballast- und Vitalstoffen ist Roggen-Sauerteigbrot nicht zu toppen. Hier das schnellste Rezept.

Nach der Beschreibung der „Optimalen Fütterung“ 500 g Sauerteig-Ansatz mit 500 g Roggenmehl Type 1150, ca. 200 ml Wasser, 15 g frische Hefe vermischen. 2 Minuten kräftig kneten. 1 1/2 TL Salz hinzufügen. Nochmal 5 Minuten kneten. Teig zur Kugel formen. Abgedeckt 1,5 Stunden an einem zimmer- warmen Ort gehen lassen. Dann auf bemehlte Küchen-Arbeitsfläche geben, 5 Minuten durchkneten. Zur Kugel formen, auf ein mit Backpapier ausgelegtes Backblech geben. Zugedeckt wieder 1 Stunde ruhen lassen. Ofen auf 240 Grad Ober- und Unterhitze vorheizen. Brot oben kreuzweise einschneiden, auf der unteren Schiene in den Backofen schieben. 10 Minuten backen. Auf 190 Grad herunter regulieren. Weitere 50 bis 55 Minuten backen. Das Brot ist fertig, wenn es beim Klopfen auf seine Unterseite hohl klingt. Erst aufschneiden, wenn es komplett ausgekühlt ist.

Dr. Matthias Riedl
Dr. Matthias Riedl

Dr. Matthias Riedl ist bekannt als Ernährungs-Doc aus dem NDR-Fernsehen. Der Facharzt für Innere Medizin und Diabetologe leitet das medicum Hamburg, Deutschlands größtes Zentrum für Ernährungsmedizin und Diabetologie (medicum-hamburg.de).