
Siegertypen brauchen kaum Schlaf, sind taff, belastbar, leistungsstark. Normalschläfer – alles Schlafmützen und Faulpelzen, die nichts auf die Reihe bekommen. Noch bis vor nicht mal zehn Jahren hatte der Schlaf ein denkbar schlechtes Image, wurde gern als lästiges Übel und verlorene Lebenszeit abgestempelt. Nicht nur von Top-Managern. Doch der laut Medizin-Lexikon als „Erholung, Ruhe und Entspannung des Organismus dienende, bewusstseinsfreie Zustand“ hätte eigentlich das Zeug dazu, gesellschaftsfähig zu sein. Denn die Neurowissenschaft entdeckt ihn immer mehr als das, was er ist: Eine Nachtarbeit des Körpers für Regeneration und Gesundheit, ohne die wir nicht überleben könnten. Verrücktes Paradoxon: Obwohl wir heute genau wissen, wie wertvoll und existenziell eine gute Nacht ist, schlafen wir immer weniger. Und wenn wir endlich mal ins Bett finden, schlafen wir nur schlecht und oder wachen häufiger auf. Aus diesem Dilemma heraus führt nach jüngsten Studien eine maßgeschneiderte Ernährung. Wie sie aussehen könnte?
Pure Panikmache? Oder schläft Deutschland wirklich schlecht?
Die Schlafqualität der Deutschen ist laut Statista durchwachsen: Ein Viertel gibt an, schlecht oder sehr schlecht zu schlafen. 40 Prozent verorten ihre Schlafqualität im mittleren Bereich. Nur knapp ein Viertel der Erwachsenen beschreibt seinen Schlaf als gut oder sehr gut. Ein dramatischer Anstieg also um ca. 60 Prozent in nur zehn Jahren! Mit schlimmen Nebenwirkungen: Etwa die Hälfte ist tagsüber dauer müde, knapp ein Drittel regelmäßig erschöpft. Und es werden doppelt so viele Schlafmittel (mit zahlreichen Nebenwirkungen plus Suchtpotential) geschluckt wie vor einem Jahrzehnt.
Woran liegt es, dass Deutschland so müde ist?
Laut einer internationalen Studie des Institute for Basic Science in Südkorea in elf Ländern: Schlimmster Schlaf-Räuber sind die sozialen Medien – und unser exzessiver Umgang mit ihnen. Genauer mit den Netzwerken Facebook, YouTube, Twitter, Google Plus, Instagram, Snapchat, Reddit, Tumblr, Pinterest, Vine, LinkedIn. Forscher der University of Pittsburgh und den National Institutes of Health haben nachgewiesen: Überbordende User entwickeln im Vergleich zu „Normalos“ eine dreifach erhöhte Wahrscheinlichkeit für Schlafstörungen.
Da schwirrt auch Blaulicht als Schlafstörer in den Medien herum. Was hat es damit auf sich?
Die Bildschirme von Smartphone und Tablet leuchten in einem besonders hellen, bläulichen Licht, das sogar bei direkter Sonneneinstrahlung die Inhalte prima erkennen lässt. Abends und nachts kann das Gehirn die helle Bildschirmbeleuchtung jedoch mit Tageslicht verwechseln und fährt die Produktion des Hormons Melatonin herunter. Dieser Gehirn-Botenstoff sendet dem Körper normalerweise das Signal, dass es Zeit ist zu schlafen. Wird das Schlafhormon nicht ausreichend produziert, kommt es zu Ein- und Durchschlafstörungen.
Aber Stress stört doch auch den Schlaf?
Er ist neben Social Media und Blaulicht der dritte Schlafkiller im Bunde. Immer schneller, immer besser, ständig online. Selbst in der Freizeit in kürzester Zeit maximal viel erleben. Erholung im Speed-Modus, Dating im Minuten-Takt... Dazu seit Corona zunehmend Existenzängste, politische Unsicherheit. Und die Klima-Entwicklung raubt laut Allianz Climate Literacy Survey 77 Prozent der Deutschen innere Ruhe und Entspannungsfähigkeit, schleißlich den Schlaf. Kein Wunder, denn im Stress schüttet der Körper vermehrt Cortisol aus. Genau dieses „Unruhe-Hormon“ bringt uns um den Schlaf.
Durch die Medien geistert die Schlaf-Prokrastination. Was steckt dahinter?
„Revenge Bedtime Procrastination“ bezeichnet das Phänomen, dass immer mehr Menschen am Abend das Schlafengehen absichtlich hinauszögern. Häufig verbirgt sich dahinter das Bedürfnis, nach einem langen Tag, der größtenteils aus Arbeit und/oder anderen Verpflichtungen bestand, noch etwas mehr Relax-Zeit nur für sich zu haben. Der Schlafaufschub erschwert jedoch das Einschlafen und vermindert laut chinesischer Studie der Liaoning Normal Universität in besonderem Maß die Schlafqualität.
Also gehen wir auch immer zu spät ins Bett?
Die Antwort ist etwas komplizierter. Im Schlaf durchlaufen wir im Schnitt vier bis sechs Schlafzyklen. Jeder besteht aus fünf Phasen, die zusammen rund 90 Minuten dauern. Immer nur zu Beginn eines neuen Zyklus öffnet sich ein Einschlaf-Fenster. Das erste und ideale liegt für die meisten von uns etwa zwischen 22:00 und 23:30 Uhr. Genau in diesem Zeit- intervall findet der Organismus nämlich sein Optimum an Entspannung. Die Schlafmedizin hat auch zwei erste Anzeichen für das Öffnen des persönlichen Einschlaf-Fensters entdeckt: Wiederholtes Gähnen und brennende, schwere Augenlider. Wer dann sofort ins Bett geht, legt den Grund- stein für gesunden Schlaf. Wer seinen idealen Schlafens-Zeitpunkt jedoch verpasst, muss rund 1,5 Stunden warten bis zum nächsten Einschlaf-Fenster.
Hat es gesundheitliche Konsequenzen, wenn wir notorisch unser optimales Einschlaf-Fenster verpas- sen oder sogar bewusst hinausschieben?
Ja, Forscher warnen: Bei Schlafmangel kommt es nicht nur zu Tagesmüdigkeit und Konzentrationsproblemen. Auch lebenswichtige Körperfunktionen wie Atmung, Herzschlag, Blutdruck, Hormonproduktion geraten durcheinander. Auf Dauer erhöht fehlender Schlaf das Risiko für Erkrankungen von Herz und Kreislauf und Depressionen, fördert Übergewicht und Diabetes. Wer nur sechs oder weniger Stunden schläft, drosselt die Produktion seiner Gehirn-Botenstoffe. Es drohen Burn-out, Depressionen. Und kommt das Gehirn in der Nacht nicht lange genug zur Ruhe, produziert es 25 bis 30 Prozent mehr vom Eiweiß Beta-Amyloid, als wieder entsorgt werden kann. Es steigt das Alzheimer-Risiko, so eine Studie der Washington University. Doch neun Stunden oder länger an der Matratze zu horchen ist auch nicht gerade gesund. Australischen Forschern zufolge ist das für den Körper zusammen mit zu wenig Bewegung genau so belastend wie Alkohol und Zigaretten. Und Menschen, die durch nächtliches Daddeln an PC, Smartphone, Tablet einen ge- störten Schlafrhythmus haben, bekommen häufiger Brust- und Prostatakrebs.
Wie lange sollten wir nun idealerweise schlafen?
Schlafforscher sind sich einig: Eine Schlafdauer zwischen sieben und acht Stunden ist für die so lebenswichtigen Erholungs-, Regenerations-Prozesse das Optimum.
Regeneration: Was passiert da im Körper?
So wie ein Akku, der neu aufgeladen werden muss, um zu funktionieren, braucht der Mensch erholsamen Schlaf. Kaum zu glauben, aber während wir Nacht für Nacht in den Kissen liegen und selig schlummern, herrscht im Körper Hochbetrieb. Regenerations- und Zellerneuerungsprozesse finden statt, das Immunsystem wird gestärkt. Auch die Wundheilung ist besonders aktiv. Der Organismus entgiftet, im Oberstübchen herrscht Kopfkino. Dort werden tagsüber gewonnene Eindrücke verarbeitet und gespeichert. Was für ein ausgeschlafenes Kerlchen Schlaf ist, zeigen allein schon diese Studien-Ergebnisse: Wer mehr als sechs Stunden pro Nacht auf sein „Schnorchel-Konto“ packt, hat einen viermal so starken Schutz vor Infekten, besonders vor Erkältungen. Das zeigt eine Studie der University of California. Eine Untersuchung der renommierten Centers of Disease Control and Prevention belegt die essenzielle Wechselbeziehung zwischen einer sieben- bis acht- stündigen Nachtruhe und Hormonen: Melatonin fürs Schlafen, Serotonin fürs Glücklichsein, Somatropin für Muskelaufbau, Fettabbau und Durchblutung, Leptin fürs Sättigungsgefühl (Adipositas-Schutz!) und Östrogen fürs Frausein. Dazu noch Endorphine zum Entspannen: Sie alle werden auf Optimal-Niveau gebildet, fördern wiederum eine gute Nacht.
Und was kann die Ernährung zum gesunden Schlaf beitragen?
Die ziemlich neu entdeckte Atlantik-Ernährung (aus Galizien, Nordportugal) und ihre schon langjährig bewährte mediterrane Schwester fahren volles Pfund Lebensmittel auf, die teilweise so effektiv wirken wie Schlafmittel (siehe Kasten Seite 21). Beide eint, dass sie Gemüse-, Obst- und Kräuter-betont frisch um die Ecke kommen. Im Rhythmus der vier Jahreszeiten. Dazu mit Olivenöl in naturreiner Bio-Qualität, frischem Seefisch, knackigen Nüssen, Samen und Kernen mit sehr viel gehirnaktiven, schlafanstoßenden Omega-3-Fettsäuren. Plus mit natürlichen, ballaststoffreichen Einschlafhilfen aus Hülsenfrüchten, Vollkorn-Produkten. Gleich mehrere Studien der University of Michigan beweisen eindeutig: Sie allesamt enthalten maximal bioaktive und bioverfügbare Natur-Inhaltsstoffe, die ihre müde machende Wirkung in den Nervenzellen des Gehirns größtmöglich entfalten. Da er- blasst so manche Schlaftablette.
Das beste Schlaf-gut-Food: 15 Mal Schnorchel-Nachhilfe zum Essen
Drei Dinge haben diese Ein- und Durchschlaf-Helfer gemeinsam: Sie kommen aus der Küche und sind völlig natürlich. Außerdem ist ihre schlaffördernde Wirkung durch hieb- und stichfeste Forschungs-Arbeiten sicher untermauert.
- Kiwi: Bereits zwei Kiwis eine Stunde vor dem Schlafengehen verkürzen die Einschlaf-Dauer, verlängern die erholsamen Tiefschlaf-Phasen, verbessern die Schlaf-Qualität. So eine Studie der Taipei Medical University, Taiwan. Ihre Antioxidanzien bauen Stress-Hormone ab.
- Kuhmilch: Sie enthält die Aminosäure L-Tryptophan (Eiweiß-Baustein), die der Körper zum Schlafhormon Melatonin umwandelt. Frucht-, Traubenzucker im Honig beschleunigen das. Tipp: In 1 Becher handwarme Vollmilch 1 TL flüssigeren Honig einrühren. 30 Minuten vor dem Zubettgehen trinken. Macht auch müde: Theobromin in Kakao.
- Montmorency Kirschen: Ganz natürlich erhöht der Saft dieser Sauerkirschen den Melatonin-Spie- gel um bis zu 15 Prozent. Und verlängert den Nachtschlaf um durchschnittlich eine Stunde und
24 Minuten. Die National Sleep Foundation: Verantwortlich dafür ist der hohe Anteil an Tryptophan, einem Baustein des Schlafhormons. Tipp: 30 Minuten vorm Zubettgehen 1 Glas zimmerwarmen Bio-Direkt- Saft (Reformhaus, Bioladen) trinken. - Haferflocken: Eine Studie der New Yorker Columbia University zeigt, dass Vollkorn-Haferflocken oder -Hafergrütze das Einschlafen fördern. Und zwar durch ihren hohen Anteil am Schlafhormon Melatonin. Aber auch durch ihren Ballaststoff Beta-Glucan. Drei Stunden vorm Schlafen eine Müslischale Haferflocken mit Hafermilch essen.
- Avocados: Die Beere ist gespickt mit Magnesium und Kalium, die Nerven und Muskulatur entspannen. Vor allem aber wirken sie gegen Ängste und Grübelattacken, die das Einschlafen erschweren. Das berichtet die Harvard Medical School, Boston.
- Thunfisch, Lachs, Hering, Dorsch, Heilbutt: Fettreicher Seefisch ist voller Gamma-Amino-Buttersäure. Der Eiweißbaustein ist ein Art Generalschlüssel für das zentrale Nervensystem. Dockt eines seiner Moleküle an ein Protein im Gehirn an, beruhigen sich „hyperaktive“ Nervenzellen. Augenblicklich fallen seelischer Stress, Anspannung, trübe Gedanken von einem ab. Ein erholsamer Schlaf kann kommen.
- Quinoa, Amaranth: Die Pseudo-Getreide sind reich an der Melatonin-Vorstufe Tryptophan und an Magnesium. So das Ohio State Medical Center. Ihre komplexen Kohlenhydrate verringern den Spiegel von Stresshormonen, die das Einschlafen blockieren.
- Zitronenverbene: Ein Tee aus Zitronenverbene-Blättern liefert Schluck für Schluck ätherische Öle wie Limonen, Caryophyllen, Pinen, Kampfer. Sie stärken das Nervensystem, schenken schlaffördernde innere Ruhe. Tipp: 1 bis 2 TL Zitronenverbene mit 150 ml Wasser aufbrühen. Nach 5 Minuten abgießen. 3 Tassen täglich.
- Weizengras: Die grünen Stängelchen enthalten laut Biotechnology and Germplasm Resources Institute in Yunnan gleich ein ganzes Potpourri an schlaffördernden Inhaltsstoffen, z. B. Zink, Magnesium, L-Tryptophan. Tipp: Pulver in einen Gemüse-Smoothie einrühren.
- Walnüsse: Schon nach wenigen Wochen verbessert eine kleine Handvoll täglich die Schlaf-Qualität. Vor allem durch ihr Magnesium, ihr L-Tryptophan. Es kommt auch seltener zur Tagesmüdigkeit (University of Barcelona).
- Chicorée: Ein frischer Salat zum Abendbrot schenkt bessere Nachtruhe. Denn er enthält den Bitterstoff Lactucin. Er wirkt beruhigend auf das vegetative Nervensystem und schiebt so den Schlaf an.
- Kamillentee: Neurologen der vietnamesischen University of Medicine and Pharmacy at Ho Chi Minh City zeigen, dass zwei Tassen Kamillentee täglich Einschlafstörungen schon nach zwei bis vier Wochen verschwinden lassen.
- Grüne Blattsalate: Besonders ihr Lactucin und Polyphenole haben einen leicht einschläfernden Effekt, der wenige Stunden nach dem Verzehr eintritt. Am effektivsten wirkt Römersalat. Tipp: Täglich 300 bis 400 g als Salat essen.
- Linsen, Kichererbsen: Hülsenfrüchte wie Linsen, Kichererbsen und Bohnen punkten mit einem hohen Gehalt an Tryptophan und Glutamin. Vor allem gelten sie als Spitzenreiter, wenn es darum geht, die Schlafqualität zu verbessern. Dazu sind Hülsenfrüchte reich an Ballaststoffen, Protein, Mikronährstoffen. Besonders Soja-, Limabohnen, Linsen enthalten viel Magnesium, Kalium: Sandmännchen-Effekt!
- Zitronen: Sie lassen ähnlich wie die Arzneipflanze Medizinal-Lavendel schneller und tiefer schlafen, kurbeln die Serotonin-Produktion an. Idealer Team-Partner: Datteln – sie stecken voller Müde-Tryptophan. Tipp: 1 gewaschene Bio-Zitrone vierteln, 6 entkernte
Trocken-Datteln, 50 m l zimmerwarmes, stilles Wasser im Stand- mixer auf höchster Stufe pürieren. Mus im Mund zergehen lassen. 45 Min. vor dem Schlafengehen.
Ultra-Schutz für Herz und Gehirn: Good News aus dem Schlaflabor
Die Forschung hat Schlaf immer mehr auf der Agenda, findet im Wochentakt neue Benefits.
- Mächtiger Herzschutz: Fast unglaubliche 63 Prozent der Herzleiden wie Koronare Herzerkrankungen oder Schlaganfall könnten durch regelmäßig sieben bis acht Stunden Schlaf pro Nacht verhindert werden. Das ist das Ergebnis einer Studie der Université Paris Cité. Jede Stunde weniger Schlaf erhöht das Risiko. Ebenso eine häufige Tagesmüdigkeit oder Atemwegs- Blockade in der Nacht (Schlaf-Apnoe).
- Nächtliche Lernhilfe: Mathematische Formeln, Vokabeln einer Fremdsprache, Aufgaben bei einer Führerschein-Prüfung – was wir tagsüber gelernt haben, wiederholt das Gehirn im Schlaf immer wieder. So wandern die neuen Skills vom Kurz- ins Langzeitgedächtnis. Diese neue Erkenntnis haben gerade Schlafforscher am Massachusetts General Hospital entdeckt.
- Mikrobiom-Verstärker: Möglichst immer zur gleichen Zeit schlafen gehen und morgens aufstehen – auch am Wochenende – ist der Schlüssel für ein leistungstarkes Mikrobiom im Darm. So das King ́s College, London. Die Regelmäßigkeit sorgt dafür, dass schädliche Bakterien zurückgedrängt, gute gefördert werden.
- Abnehm-Hilfe: Wer sein nächtliches Schlaf-Pensum auf sieben bis acht Stunden taktet, verringert seine Kalorien-Aufnahme um 270 kcal pro Tag. Das macht in drei Jahren einen Gewichts-Ver- lust von ca. 12 Kilo (University of Chicago). Der Grund: weniger Hungerhormon Ghrelin
Dr. Matthias Riedl ist bekannt als Ernährungs-Doc aus dem NDR-Fernsehen. Der Facharzt für Innere Medizin und Diabetologe leitet das medicum Hamburg, Deutschlands größtes Zentrum für Ernährungsmedizin und Diabetologie (medicum-hamburg.de).