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Neue Gentherapie bei Hämophilie B: Einmalige Infusion statt lebenslange Injektionen
Hämophilie B ist eine seltene Form der sogenannten Bluterkrankheit, die aufgrund der zugrunde liegenden Genetik fast ausschließlich bei Männern auftritt. Seyed Shaddel hat im Rahmen einer klinischen Studie eine neuartige Gentherapie zur Behandlung der Hämophilie B erhalten. In diesem Artikel berichtet er und sein behandelnder Arzt über die Krankheit und die neue Therapie.
„Die Gentherapie hat bei mir bestens funktioniert“, sagt Seyed Shaddel. „Das ist jetzt eine ganz andere Lebensqualität.“ Der 34-jährige Berliner erhielt 2020 im Rahmen einer klinischen Studie eine neuartige Gentherapie zur Behandlung der Hämophilie B.
Hämophilie B: Bluterkrankheit mit Folgen für Körper und Psyche
Die Hämophilie B ist eine von zwei Hauptformen der Bluterkrankheit Hämophilie. An einer schweren Hämophilie leiden fast nur Männer. Der verursachende Gendefekt wird auf dem X-Chromosom vererbt, von dem Männer nur eines, Frauen aber zwei haben. Während bei Frauen der Defekt in der Regel über das nicht betroffene X-Chromosom ausgeglichen oder zumindest stark abgemildert wird, kommt es bei Männern zur Bluterkrankheit: Je nach Schwere der Erkrankung gerinnt das Blut nur langsam oder gar nicht.¹
Was ist Hämophilie?
Bei Menschen mit Hämophilie kommt es bei unzureichender Therapie zu unkontrollierten Blutungen. Vor allem in den Gelenken kann dies zu sehr schmerzhaften, fortschreitenden Gewebeschädigungen führen. Lebensgefährlich wird es beispielsweise bei Hirnblutungen und äußeren Verletzungen, wenn die Wunde nicht aufhört zu bluten. Zwar können regelmäßige Infusionen den gravierendsten Krankheitsfolgen effektiv entgegenwirken. Dennoch müssen von Hämophilie Betroffene auch unter Prophylaxe Einschränkungen in Kauf nehmen, etwa bei der Berufswahl.² Entsprechend hoch ist für viele Patienten die psychische Belastung: Fast die Hälfte der jungen Erwachsenen mit Hämophilie berichtet von Ängsten und/oder Depressionen.³
„Mein älterer Bruder leidet auch an Hämophilie B“, erzählt Seyed, „weshalb die Ärzte bei meiner Geburt sofort alarmiert waren.“ Entsprechend schnell stand fest, dass auch der jüngere Bruder die chronische Erkrankung hat. Beim Älteren hatte es viel länger gedauert, bis die Diagnose gestellt war und eine geeignete Therapie eingeleitet wurde. „Er hatte immer wieder Blutungen, Hämatome und Verletzungen, die nicht abheilen wollten“, sagt Seyed.
Belastend, aber bislang unverzichtbar: Die wöchentliche Spritze zur Prophylaxe
PD Dr. med. Robert Klamroth ist Chefarzt der Klinik für Angiologie und Hämostaseologie am Berliner Vivantes Klinikum im Friedrichshain und Seyed Shaddels behandelnder Arzt. Er erläutert⁴: „Bei der Hämophilie A fehlt der Gerinnungsfaktor VIII und bei der Hämophilie B fehlt der Faktor IX. Mit rund 5.000 Patienten kommt die Hämophilie A etwa fünfmal häufiger vor als die Hämophilie B.“¹ Die Diagnose Hämophilie werde meist innerhalb des ersten Lebensjahres gestellt, so der Experte. Vor allem, wenn die Kleinen anfangen zu laufen und sich die ersten blutenden Schrammen abholen.
Als wichtigste Säule der Therapie erhalten bereits die jüngsten Hämophilie-Patienten wöchentliche Spritzen, die den fehlenden Gerinnungsfaktor ersetzen und so eine Blutgerinnung verbessern beziehungsweise ermöglichen.¹ „Das ist für die Kleinen sehr unangenehm“, berichtet Dr. Klamroth. Seyed Shaddel bestätigt: „Schon als Baby habe ich einmal die Woche eine Spritze bekommen. Das haben viele Jahre meine Eltern gemacht, die von den Ärzten angeleitet wurden. Später habe ich mir die Spritzen selbst gegeben.“
Auch dieses strikte Therapieschema kann zur psychischen Belastung werden, spätestens, wenn die jungen Patienten in die Pubertät kommen. Erinnert es sie doch dauernd daran, nicht so frei zu sein wie die anderen.⁵ Zugleich aber ist die regelmäßige Prophylaxe für Betroffene aller Altersklassen bislang die beste Option, bei Hämophilie ein einigermaßen normales Leben zu führen. An den Therapieoptionen könnte sich allerdings bald etwas ändern …
Wird die einmalige Gentherapie die wöchentliche Spritze ablösen?
Anfang 2023 wurde in der Europäischen Union eine neuartige Gentherapie zugelassen. Sie hat das Potenzial, den Betroffenen ein weitestgehend normales Leben zu ermöglichen, ohne dass sie sich dafür Woche für Woche Gerinnungsfaktoren spritzen müssen.⁶ Diese Therapie besteht aus einer einzigen Infusion. Stand heute kommt sie in Deutschland in der regulären Patientenversorgung trotz erfolgter Zulassung noch nicht zur Anwendung.
Seyed Shaddel erhielt die neue Therapie 2020 im Rahmen einer klinischen Studie: „Während unserer regelmäßigen Besuche im Hämophilie-Zentrum erzählte uns Dr. Klamroth von einer Studie mit einem völlig neuen Wirkstoff.“ Nach einer ausführlichen Aufklärung entschied sich Shaddel, daran teilzunehmen.⁷

Das besagt die neue Therapie bei Hämophilie
Die neue Therapie mit dem Gentherapeutikum Etranacogene Dezaparvovec zielt darauf ab, das für die körpereigene Produktion des Gerinnungsfaktors IX codierende, also zuständige Gen in die Leberzellen des behandelten Patienten zu transportieren. Nach nur einer Infusion kann der Gerinnungsfaktor langfristig in der Leber produziert und in das Blut abgegeben werden. Die für die Zulassung der Gentherapie ausschlaggebenden klinischen Studien haben gezeigt, dass die Produktion des Gerinnungsfaktors in der Leber auch nach Monaten und Jahren anhält. Alle Behandelten werden 15 Jahre lang nachbeobachtet, um die langfristige Wirksamkeit und Sicherheit der Gentherapie zu kontrollieren. Bei 96 Prozent der Studienteilnehmer war nach der Gentherapie keine Prophylaxe (wöchentliche Faktor-IX-Ersatztherapie) mehr nötig.⁷
Auch Seyed Shaddel benötigt heute keine regelmäßige Ersatztherapie mehr: „Seit dem 20. Januar 2020 muss ich mir keine wöchentlichen Spritzen mehr setzen.“ Lediglich begleitend zu einer Zahn-OP habe er einmal ein zusätzliches Medikament bekommen. „Aber nur, um sicherzugehen“, sagt Seyed Shaddel. Von den nervenaufreibenden Ereignissen in seiner Kindheit, als er beispielsweise nach einem tiefen Schnitt mit dem Teppichmesser zehn Tage im Krankenhaus war, kann er inzwischen recht gelassen erzählen. „Das ist jetzt eine ganz andere Lebensqualität“, freut sich der frisch verheiratete IT-Techniker.
Therapieziel der Zukunft: Ein weitestgehend normales Leben für Betroffene
Wie blickt Seyed Shaddels behandelnder Arzt auf die unmittelbare Zukunft der Hämophilie-Therapie? PD Dr. med. Robert Klamroth: „Die bislang in klinischen Studien erfolgreich behandelten Patienten sind durch die Gentherapie in der Mehrheit jetzt seit Jahren blutungsfrei und benötigen keine andere Therapie mehr. Die wöchentlichen Spritzen sind dann nicht mehr nötig.“ Es gibt jedoch auch einige Einschränkungen, wie Dr. Klamroth ergänzend ausführt. Die Leber muss demnach voll ausgebildet sein, weshalb die Gentherapie bei Patienten unter 18 Jahren nicht infrage kommt. Zudem funktioniert den Studien zufolge die Gentherapie nicht bei Hämophilie-Patienten, die eine sehr große Menge an spezifischen Antikörpern im Blut haben.
Umgekehrt bedeutet das: Erwachsenen Patienten mit mittelschwerer bis schwerer Hämophilie B, die nicht sehr viele dieser spezifischen Antikörper im Blut und auch keine andere Kontraindikation aufweisen, kann die neue Gentherapie die Perspektive eines weitestgehend normalen Lebens eröffnen. Seyed Shaddel denkt in diesem Zusammenhang mit etwas Wehmut an seine Jugend zurück, als es eben diese Perspektive noch nicht gab: „Ich war ein begeisterter Fußballspieler und auch ziemlich talentiert. Aber im Alter von 15 Jahren musste ich das dann aufgeben, weil ich oft Probleme mit Einblutungen in die Fußgelenke hatte. Die Auswirkungen spüre ich noch heute. Fußball spielen vermisse ich schon sehr.“
Kostenfrage Gentherapie vs. wöchentliche Prophylaxe: Im Grunde eine einfache Rechnung
Wann die neue Gentherapie für Patienten in Deutschland de facto verfügbar sein wird, ist derweil noch offen. Der vermeintlich hohe Preis der Einmalinfusion sorgt für Diskussionen in Bezug auf die Erstattungsfähigkeit. Aber: Stellen sich die zahlenden Krankenkassen mit den Einmalkosten für die Gentherapie tatsächlich schlechter als mit den Kosten für die wöchentliche Prophylaxe? Dr. Klamroth rechnet vor: „Die wöchentlichen Spritzen kosten jährlich bis zu 300.000 Euro. Nach zehn Jahren hat sich das amortisiert.“
Im Grunde also eine einfache Rechnung, zumal der Hersteller der Gentherapie den Kassen einen Finanzierungsvorschlag in Form einer Ratenzahlung unterbreitet hat. „Solange die Patienten nach Gabe der Gentherapie keine weiteren Behandlungen mit Faktor IX mehr benötigen“, erläutert Dr. Klamroth das Prinzip, „zahlen die Kassen jedes Jahr den Betrag, den sie sonst für die Faktor-IX-Gaben ausgeben würden.“
Allerdings mit dem Unterschied, dass diese Ratenzahlung nach gut einer Dekade abgeschlossen ist, während die Faktor-IX-Gaben ein Patientenleben lang bezahlt werden müssen. Eine Entscheidung bezüglich des vorgeschlagenen Finanzierungsmodells steht noch aus.
Quellen:
¹Paul-Ehrlich-Institut: Welttag der Hämophilie: Therapiemöglichkeiten der Bluterkrankheit.
³Witkop M, Guelcher C, Forsyth A et al. Treatment outcomes, quality of life, and impact of hemophilia on young adults (aged 18-30 years) with hemophilia. Am J Hematol. 2015 Dec;90 Suppl 2:S3-10. doi: 10.1002/ajh.24220
⁷Pipe SW, Leebeek FWG, Recht M, Key NS et al. Gene Therapy with Etranacogene Dezaparvovec for Hemophilia B. N Engl J Med. 2023 Feb 23;388(8):706-718. doi: 10.1056/NEJMoa2211644
Hilfreiche weiterführende Literatur zum Thema Hämophilie B und Gentherapie:
Statement der European Medicines Agency unter https://www.ema.europa.eu/en/documents/overview/hemgenix-epar-medicine-overview_de.pdf
Orphanet mit Hämophilie B unter https://www.orpha.net/consor/cgi-bin/OC_Exp.php?lng=DE&Expert=98879
Deutsche Hämophiliegesellschaft zu neuen Behandlungsmöglichkeiten unter https://www.dhg.de/behandlung/neue-behandlungsmoeglichkeiten.html#c330
ZDF.de mit einem Beitrag unter https://www.zdf.de/nachrichten/panorama/haemophilie-blutererkrankung-behandlung-gentherapie-100.html
Selpers.com mit Videoinformationen von Prof. Ingrid Pabinger-Fasching unter https://selpers.com/haemophilie/gute-entscheidungen-treffen-bei-haemophilie-b-gentherapie/