
Es ist das Jahr 1674. Der Tuchmacher und Erfinder Antoni van Leeuwenhoek sitzt in seiner Delfter Studierstube vor einem einlinsigen Mikroskop, das er selbst erfunden hat. Er untersucht seinen Speichel, seinen Stuhlgang. Und entdeckt, völlig aus dem Häuschen, an die 1000 „Diertjes“, also „Tierchen“. Heute würden Wissenschaftler sie z. B. Bakterien, Einzeller oder Mikroben nennen. Mit seiner revolutionären Entdeckung läutete Leeuwenhoek die Geburtsstunde der Mikrobiologie ein. Und seine „Tierchen“ die des Mikrobioms. Doch diese Bezeichnung erhielt es erst 2008 durch den Nobelpreisträger Joshua Lederberg. Der Beginn einer raketengleich expandierenden und bis heute immer wieder aufsehenerregenden Ära. Gab es 2008 weltweit gerade mal kümmerliche 600 Studien zum Thema, waren es vor vier Jahren bereits 20468 Publikationen. Nicht nur das. In die Forschung sind in den vergangenen 15 Jahren mehr als 1,7 Milliarden US-Dollar geflossen. Kein Wunder, denn der Markt vor allem für Nahrungsergänzungsmittel fürs Mikrobiom wird allein in den USA auf 10 Milliarden Dollar jährlich geschätzt, so die São Paulo Research Foundation. Ein lukrativer Markt, bei dem sich Gelder für die Mikrobiom-Forschung richtig satt rechnen. Dr. Riedl taucht tiefer in die allerneuesten Mikrobiom-Erkenntnisse ein. Denn er sieht entscheidende Anknüpfungspunkte an die moderne Ernährungsmedizin als Gesundheitsfaktor dieses faszinierenden "Fast-Organs".
Herr Dr. Riedl, bevor Sie gleich bitte einmal eine provozierende Frage beantworten, erst diese Basis-Info: Was ist das Mikrobiom?
Dr. Matthias Riedl: Genau genommen trägt jeder Mensch eine ultragroße Lebensgemeinschaft in sich, ohne es zu wissen. Nämlich die WG des Mikrobioms vor allem im Darm, aber auch z.B. auf der Haut, in Mund oder Blase. Es beherbergt mehr Mikroben – überwiegend Bakterien, Viren, Pilze, Ur-Bakterien – als unser Körper Zellen besitzt. Das Mikrobiom stellt eine biophysikalische Schutzbarriere dar, baut Umweltgifte, Stoffwechsel-Abbauprodukte ab, verhindert die Besiedlung von Krankheits-Erregern. Und trägt maßgeblich zur Ausbildung unseres Immunsystems bei. Bemerkenswert ist zudem, dass das Mikrobiom über die Darm-Hirn-Achse ständig mit den grauen Zellen des Gehirns redet – und umgekehrt. Verblüffend, dass seine Zusammensetzung so einzigartig ist wie der persönliche Fingerabdruck.
Ähnlich wie ein tropischer Regenwald ist auch das Mikrobiom ein komplexes, kompliziertes Ökosystem, das bitte nicht wie er „abgeholzt“, sondern „aufgeforstet“ werden sollte. Das ist dringend notwendig, denn jüngste Studien zeigen, dass das Mikrobiom in den vergangenen 80 Jahren ca. vier Fünftel seiner Vielfalt verloren hat. Wahrscheinlich durch zu viel Hygiene, den grenzenlosen Einsatz von Antibiotika. Aber auch, ganz entscheidend durch die moderne Ernährung.
Sie haben sich in der „Iss dich GESUND“ ja schon öfter übers Mikrobiom geäußert. Auch in TV, Zeitschriften, Ratgebern, Podcasts, den neuen Medien – gefühlt überall Mikrobiom zum Abwinken. Gibt es überhaupt noch etwas, was die Leser unbedingt wissen sollten, ohne ins Gähnen zu kommen?
Dr. Matthias Riedl: Gähnen ist nicht! Sie werden sich wundern, welche nutzwertigen Überraschungen es gibt, von denen Sie ganz bestimmt noch nicht gehört oder gelesen haben. Und deren Informationsgehalt einen entscheidenden Beitrag für ein intaktes Mikrobiom in Balance leistet. Und damit natürlich automatisch auch für die Gesundheit.
Jetzt haben Sie uns neugierig gemacht. Dann erzählen Sie bitte mal.
Dr. Matthias Riedl: Mit am spannendsten finde ich, dass das Mikrobiom im Darm nicht nur in enger Kommunikation mit dem Gehirn steht. Sondern mit allen, aber auch wirklich allen Organen. Der ganze Körper wird durchzogen von biochemischen Daten-Autobahnen. Und von Transportwegen wie z.B. dem Vagusnerv, auf denen Bakterien-, sogar Pilz-Boten hin und her reisen. So gibt es etwa eine Darm-Mikrobiom-Achse zur Haut, zur Leber, zur Lunge. Und vor kurzem ist auch eine zum Herzen entdeckt worden. Diese bahnbrechenden Erkenntnisse haben, wie Sie sich schon denken können, enorme Auswirkungen auf unsere Gesundheit.
Das ist ja ein richtig spannender Biochemie-Krimi, von dem Sie da gerade erzählen. Können Sie das noch ein wenig konkretisieren?
Dr. Matthias Riedl: Das mache ich sehr gern – am Beispiel der Mikrobiom-Lungen-Achse. Kommt es im Darm-Mikrobiom zu einer Dysbiosis, also zu einem Ungleichgewicht der Mikroben, produzieren die Darm-Bakterien weniger kurzkettige Fettsäuren wie z.B. Acetat, Propionat oder Butyrat. Fehlen sie, können sie nicht in die Lunge reisen und dort Entzündungen von Infektionen bekämpfen wie sonst üblich. Es kommt häufiger zu Lungenentzündungen, zu Asthma – vor allem bei Kindern. Auch bei Lungenkrebs haben Forscher einen Mangel an schützenden Darm-Bakterien festgestellt. Aber selbst die kleineren Mikrobiome können durch eine Dysbalance durchaus Fern-Wirkungen haben. Schwächelt z. B. das Nasen-Mikrobiom, vermehren sich Erreger wie der Streptococcus pneumoniae ungehemmt. Und wandern bei Bevölkerungs-Überschuss von der Nase eine Etage tiefer in die Bronchien oder sogar in die Lunge. Und entzünden sie.
Sie wollen also sagen, dass ich durch ein ungünstiges Nasen-Mik- robiom z. B. eine Bronchitis bekommen kann?
Dr. Matthias Riedl: Ja, genau. Internationale Forscher experimentieren deshalb gerade mit einem Nasenspray, durch das lebende Probiotika-Bakterien in die oberen Atemwege gesprüht werden. Und das Mikrobiom in der Nase auf diese Weise stärken. Ein anderer Therapie- und sogar Präventions-Ansatz ist, die Infektabwehr mit gezielt zugeführten, guten Bakterien auf Spur zu bringen und zu trainieren. Die Medizin steht also kurz vor der realen Möglichkeit, über den Darm und die Nase Bronchien und Lunge zu heilen, sie im Optimal-Fall sogar vor Infekten zu schützen. Übrigens warne ich in diesem Zusammenhang vor E-Zigaretten. Sie zerstören das empfindliche Gleichgewicht des Mikrobioms in der Nase.
Gibt es etwa auch Interaktionen zwischen Darm-Mikrobiom und un- serem Lebensmotor Herz?
Dr. Matthias Riedl: Tatsächlich gilt es heute als Schlüsselfaktor für die Herz-, auch die Gefäß-Ge- sundheit. Durch komplizierte metabolische Interaktionen mit dem Immunsystem kann es Krankheiten wie Arteriosklerose, Bluthochdruck und zu hohe Blutfettwerte verhindern. Eine jüngste Studie der Harvard University von April 2024 zeigt, dass vor allem das Bakterium Oscillibacter ein exzel- lenter Bio-Blutfettsenker ist. Die Forscher stellten nämlich fest, dass es Cholesterin „anknabbert“ und in Zwischenprodukte umwandelt, die wiederum von anderen Bakterien abgebaut und aus- geschieden werden.
Können Sie noch über weitere Forschungs-Durchbrüche berichten?
Dr. Matthias Riedl: In Deutschland leiden rund 320 000 Menschen an Morbus Crohn und Colitis ulcerosa. Die Ursachen dieser chronischen Darmerkrankungen sind noch weitgehend unbekannt. Aber es gibt den Verdacht, dass ein gestörtes Mikrobiom Gewebeschäden an der Darmwand verursacht. Und für diese Störungen der Darmflora sind offenbar nach jüngsten Studien der Technischen Universität München defekte Mitochondrien, also die Energie-Kraftwerke im Zellinneren, verantwortlich. Hier bietet sich der Ansatz für eine neue Therapie, die auf die mitochondrialen Stoffwechsel-Wege einwirkt. Das würde das äußerst stark belastete Leben der Millionen Betroffenen um ein Vielfaches erleichtern.
Hat die Forschung denn auch neue Erkenntnisse jenseits von körperlichen Erkrankungen durchs Mikrobiom zutage gefördert?
Dr. Matthias Riedl: Ja, gleich zwei auf einen Schlag. Je artenreicher das Mikrobiom im Darm, desto lässiger lassen wir Stress von uns abperlen. Eigentlich kein Wunder, weil ca. 90 Prozent des Wohlfühlhormons Serotonin und 50 Prozent des Glückshormons Dopamin nicht im Gehirn, sondern im Mikrobiom gebildet werden. Für eine wünscheswerte Artenvielfalt sorgen übrigens nach neuesten Studien schon Umarmungen, Küsse, Streicheln, nahe beieinander sein.
Zum Schluss eine brennende Frage an Sie: Welches sind die wirklich allerwichtigsten Nahrungsmittel für das Mikrobiom in Darm und den anderen Organen?
Dr. Matthias Riedl: Da empfehle ich auf jeden Fall die vier Ks. Also Kefir, Kombucha, Kimchi und Kohl-Kraut, das sauer vergoren ist. Davon sollte pro Tag so um und bei eine gute Tasse gegessen werden. Und dann pro Woche 30 verschiedene Pflanzen-Produkte: z. B. Gemüse, zuckerarmes Obst, Nüsse, frische Kräuter, Kerne, Samen, Vollkornbrot, -Reis, -Nudeln ... Davon jeden Tag drei Portionen. Und auf den Teller sollte möglichst viel Farbe kommen. Denn bunte Gemüse und Früchte enthalten besonders viele Polyphenole, die das Mikrobiom heiß und innig liebt. Und natürlich möglichst wenig ultraprozessiertes Industrie-Food essen. Denn das lässt die Artenvielfalt des Mi- krobiomsverarmen und reduziert auf diese Weise seine Funktionsfähigkeit.
Darmflora checken?
Kommerzielle Tests wollen auffällige Mikrobiome erkennen. Ein riesengroßer Hype. Doch was taugen sie wirklich?
Es gibt sie für zu Hause, Labore bieten sie übers Internet an. Sogar exklusive Wellnes-Ressorts haben sie gerne mit in ihrem Verwöhn-Paket. Egal, wo und durch wen: Gecheckt wird bei günstigeren Test-Angeboten die Verteilung von „guten“ zu „schlechten“ Darmbakterien.
Das kostet rund 200 Euro. Wer ungefähr noch bis zu 300 Euro drauflegt, bekommt eine Detail-Analyse, die einzelne Bakterienarten genetisch bestimmt. Inklusive ihrer prozentualen Verteilung.Das Dubiose: „Ungefähr 45 Prozent der Test-Anbieter verkaufen auch Nahrungsergänzungsmittel, die sie Verbrauchern aufgrund ihrer Testergebnisse empfehlen“, so eine Analyse der renommierten Fachzeitschrift „Science“. Die Untersuchung bemängelt auch nachdrücklich, dass all diese Unternehmen die medizinisch-analytische und klinisch relevante Aussagekraft nicht belegen. Vom konkreten Nutzen für die Gesundheit mal ganz abgesehen. Die Autoren wittern dahinter vor allem eine kommerzielle Ausbeutung von Verbrauchern.
Im Team mit anderen Bodyguards
Mensch und Mikrobiom-Bewohner leben in cleverer Koexistenz. Denn die Mikroorganismen schützen den Körper vor Keimen. Dafür liefert er ihnen einen wohligen Lebensraum. In diesen neun Regionen:
In den Augen: Es gibt vor allem vier Areale, in denen die Bakterien des Augen- Mikrobioms wohnen: Die Meibom- Drüsen (Talgdrüsen am Rande der Augenlider), die Bindehaut, die Schleimhaut der Augenlider. Und, recht neu entdeckt, sogar die Hornhaut (Schutz vor Hefepilze). Ihre Hauptbewohner sind Staphylococcus und Propioni-, Delftia-Bakterien. Sie sind Türsteher gegen Eindringlinge, halten die Augen feucht.
In der Nase: Die Nase ist einer der wichtigsten Zugänge zum Körper, daher auch Einfallstor für schädliche Bakterien und Viren. Mikroben in der Nase, darunter Cutibacterium, Moraxella und Staphylococcus epidermis, bekämpfen diese Eindringlinge und stimulieren die Produktion von Abwehrschleim. Sie stehen mit Rachen-, Mundflora in Verbindung.
Im Mund: Bis zu 700 verschiedene Bakterien und andere Mikroben-Arten (z. B. Pilze, Viren) bewohnen die Mundhöhle. Sie dienen als fundamentaler Abwehr-Schild und halten eng zusammen. Sie schützen die Mund- und Zungengesundheit und die Zähne vor Karies.
In Lunge und Bronchien: Recht neu ist die Entdeckung von Mikroorganismen wie dem Bakterium Prevotella in den unteren Atemwegen. Sie schützen vor Infekten, indem sie das Lungen- und Bronchialgewebe möglichst feucht halten. Aber in der Lunge ist das Mikrobiom viel überschaubarer als im Darm, weil es dort ein nur recht mageres Nährstoffangebot gibt.
Auf der Haut: Auf ihr leben rund 1 000 „gute“ Bakterien-Stämme wie Staphylococcus epidermidis. Er sondert ein Peptid ab, das Eindringlinge vernichtet. Andere stärken die Hautbarriere, indem sie eigene Antibiotika und antivirale Wirkstoffe produzieren. Sie können sogar Immun- Killerzellen herbeirufen.
Im Magen: Wegen seiner aggressiven Säure hat er einen sehr niedrigen pH-Wert. Und bietet deshalb einen geradezu feindlichen Lebensraum für nur wenige hartgesottene Mikrobiom-Bakterien.
Im Darm: Ein einziges Gramm Darminhalt beherbergt mehr Lebewesen als die Erde Menschen. Das Mikrobiom tut sich als Verdauungs-Helfer hervor, als Trainingspartner fürs Immunsystem, als Schutz-Darmbarriere. Die Riesen-Mehrheit (95 Prozent der Mikrobiom-Bewohner) lebt hier, bildet den Sitz des Bauch-Hirns.
In der Blase: Das komplexe Mikrobiom bei Mann und Frau lässt abwehrstarke Schleimhaut wachsen, produziert Anti-Erreger-Wirkstoffe. Und verhindert das Anhaften von Erregern an die Blasenschleimhaut.
In den Geschlechtsorganen: In der Vagina stärken Milchsäurebakterien die lokale Abwehr, schüt- zen vor Infektionen. Ihre Milchsäure hält den pH-Wert auf immunstarkem Milieu von 3,8 bis 4,4. Auf der Penishaut wachsen 42 schützende Mikrobiom-Bakterienarten.
Dr. Matthias Riedl ist bekannt als Ernährungs-Doc aus dem NDR-Fernsehen. Der Facharzt für Innere Medizin und Diabetologe leitet das medicum Hamburg, Deutschlands größtes Zentrum für Ernährungsmedizin und Diabetologie (medicum-hamburg.de).