
Nur in seinen schwachen Momenten schenken wir dem Bindegewebe unsere Aufmerksamkeit. Etwa, wenn es Falten auf der Stirn zulässt, Krähenfüße um die Augen. Oder wenn sich Krampfadern an der Wade hinunterschlängeln, Cellulite-Krater Po und Oberschenkel verunstalten oder Hämorrhoiden zum Schmerz-Monster werden. Unter diesem viel zu engen und eher krankheitsbezogenen Blickwinkel haben sogar Mediziner bislang das dreidimensionale Gerüst unseres Körpers betrachtet. Doch neueste Forschungen zeigen, dass das Bindegewebe ein Schlüsselfaktor der Gesundheit ist. Wie der Name schon sagt, verbindet das schwergewichtige Gewebe. Es umhüllt jede einzelne Zelle, alle Organe, jedes Blutgefäß, die Knochen, Lymph- und Nervenbahnen die Muskeln, Sehnen und Bänder. Zu ihm gehören übrigens die seilähnlichen Faszien, die hauptsächlich aus Kollagenfasern bestehen und Muskeln ihre Form und Festigkeit geben. Aber nach neuesten wissenschaftlichen
Erkenntnissen ist das Bindegewebe nicht nur ein simples Stützkorsett, sondern vielmehr ein weit verzweigtes Kommunikationssystem zwischen den Organen. Denn es bildet ein Netzwerk von Sensoren und Schmerzrezeptoren, die Signale weiterleiten. Mit diesem Geflecht der Gesundheit stimmen die Organe ihre Tätigkeit aufeinander ab. Wird der biochemische "Body-Talk" gestört – oft durch Verspannungen, Stress oder Narben – kann es z. B. zu Rückenproblemen, Schmerzen in Fußsohlen, Nacken oder Fersensporn kommen. Im schlimmsten Fall sogar zu Herzschwäche, Lungenproblemen, Reizdarm oder Rheuma.
Das Bindegewebe liebt Yoga und Zärtlichkeit
Das Bindegewebe mit seinen Faszien (lat: fascia = Band) und Kollagen bildenden Zellen ist also mehr als lockeres Füllmaterial. Es gibt immer mehr Wissenschaftler, die es sogar für ein neues Sinnesorgan halten. Allein schon die Faszien gelten nach der Haut mit geschätzten über 100 Millionen Nervenzellen als das größte sensible System unseres Körpers. Die Detailforschung ist noch längst nicht abgeschlossen. Aber eine jüngste Studie der italienischen Universität Padua hat herausgefunden, dass die sensorischen Nerven der Faszien besonders stark um die Blutgefäße herum angesiedelt sind. Und auch in der Nähe von Makrophagen - den großen Killerzellen des Immunsystems. Das gesamte Bindegewebe ist auch noch ein wichtiger Wasserspeicher, nimmt Giftstoffe auf, ist Teil der Körperabwehr und leitet die Heilimpulse von Arzneien weiter. Ob es ihm gut geht, kann jeder ganz einfach feststellen: Ist die Haut druckempfindlich? Hat sie oft blaue Flecken? Besenreiser an den Beinen? Tut es weh, wenn eine Hautfalte abgehoben wird? Vier Ja-Antworten verraten, dass das Bindegewebe leider nicht in Top-Form ist. Ein Mutmacher aber: Schon leichte Reize peppen das Bindegewebe wieder auf. Es liebt z.B. Yoga, Massagen, Dehnen (siehe rechte Seite)-und zärtliches (Selbst-)Streicheln. Bindegewebs-Faszien blühen so gar richtig auf, wenn sie verändert werden. Sie mögen gern gedrückt, gezogen, geknetet und gedehnt werden.
Wer sich nicht bewegt, verklebt leicht
Deshalb sind Faszien auch so große Trainings-Fans. Sie genießen es, wenn mit Faszienrollen oder Triggerkelchen aktiv an der Dehnung der Muskeln gearbeitet wird. Auch die Belastung im Training mit Thera-Bändern oder aktiven Dehnübungen sind „Pflege-Lieblinge“ der faszialen Bindegewebs- strukturen. Das alles stimuliert sie, frisches Kollagen zu bilden und setzt Botenstoffe frei, die Schmerzen oder Entzündungen lindern können.
Doch das so perfekt austarierte Fasziensystem kann leicht ins Straucheln kommen. Etwa durch eine Ernährung mit industriell hochverarbeitetem Food, zu wenig Bewegung, Fehlhaltungen, Entzündungen, Verletzungen, degenerativen Erkrankungen wie Arthrose. Oder einfach nur durchs Altern. Diese Störfaktoren können das filigrane, gallertartige Gewebe, das aus Wasser und Proteinen besteht, sozusagen verfilzen oder zusammenkleben.
Im schlimmsten Fall kristallisieren die Wassermoleküle quasi aus und verdicken sich allmählich wie Flüssighonig, werden hart und versteift. Diese knubbeligen Verhärtungen (myofasziale Triggerpunkte) lassen sich sogar im Muskelgewebe ertasten. Besonders gut in den Oberschenkeln, Oberarmen, am Bauch. Eine Aufsehen erregende Therapie kommt aus der gerade wiederentdeckten, Jahrtausende alten Schröpf-Kur. Ihre mechanischen Saugreize im erwärmten Schröpfglas lösen biochemische Reaktionen aus, die lädiertes Bindegewebe regenerieren.
Faszien und Bindegewebe optimal trainieren
Gesundes Bindegewebe ist biegsam wie Bambus, reißfest wie ein Zugseil und ermöglicht federnde Bewegung wie bei einer Gazelle. Mit dieser Fitness klappt ́s locker.
Hüpfen und springen für mehr Elastizität
Das Bindegewebe ist ein Power-Organ und Bewegungs-Künstler. Eine gezielte Fitness macht es optimal dynamisch und locker elastisch
So geht’s: Für die Übung „Streck-Hüpfer“ mit geradem Rücken hinstellen, Füße hüftbreit auseinander. Augen schauen dabei immer geradeaus. Nun die Arme mit ausgestreckten, gespreizten Fingern schulterbreit maximal zur Decke strecken. Körperposition halten und 20-mal so hoch wie möglich auf der Stelle hüpfen. Für die fasziale Elastizität super in Kombi mit der Übung „Hampelmann“, Seilspringen oder Hüpfen auf dem Mini-Trampolin. Bindegewebs-Benefits: Gezieltes Faszien-Workout löst Verhärtungen etwa durch langes Sitzen und macht das Bindegewebe wieder elastischer. Gleichzeitig fördert es seine dreidimensionale Bewegungs-Koordination.
Locker werden mit Foam-Rolling
Diese neuere Roll-Massage kann verklebtes Binde- und Faszien-Gewebe wieder lösen und dehnbarer, deutlich beweglicher machen
So geht’s: 15 Minuten am Tag diese klassische Faszien-Linie mit der Foam-Rolle rollen: In dichten, nebeneinanderliegenden Bahnen von der Außenseite der Oberschenkel übers Gesäß hoch zum unteren Rücken. Faszien-Massage light für Menschen, die druck- und schmerzempfindlich sind: Besagte Faszien-Linie mit warmem Massageöl z. B. mit Sanddorn einreiben. Nun die Haut mit Daumen und Zeigefinger hochziehen. Diese entstehende Haut-Ausstützung weiter Richtung Rücken rollen. Bindegewebs-Benefits: Der Druck dieser besonderen Schaumstoff-Rolle (ca. 30 Euro) dehnt lokales Bindegewebe, Muskelfasern und Faszien. Das löst Verklebungen und Triggerpunkte. Zusätzlich aktiviert ihr „gepolsterter“ Druck Nervenden in Muskeln.
Entspannt und geschmeidig mit Faszien-Stretch
SpezieIIe Dehnübungen fürs Bindegewebe und dazugehörige Faszien machen beide Funktionseinheiten geschmeidig und leistungsstark
So geht’s: Auf einer Yogamatte in den Vierfüßlerstand gehen, Knie hüft-, Hände schulterbreit auseinander. Hüfte befindet sich über den Knien, Schultern über den Handgelenken. Finger breit gefächert in die Matte drücken, Kopf bleibt in der Verlängerung der Wirbelsäule. „Die Kuh“: Arme gestreckt halten, einatmen, Bauch absenken. Brustbein nach vorn schieben, Schultern nach hinten ziehen, Blick geradeaus. „Die Katze“: Beim Ausatmen Bauchnabel sanft zur Wirbelsäule ziehen, dadurch das Becken aufrichten. Oberen Rücken rund machen, Schulterblätter auseinander ziehen. Beide Übungen 12-mal im Wechsel. Bindegewebs-Benefits: Dieses fasziale Stretching dehnt lange Muskel- und sie umschließende Faszienketten im Rücken sanft nach oben und unten. Das erhöht die Stoffwechselrate im Bindegewebe, entspannt seinen Tonus, löst Verklebungen und fördert die Durchblutung. Ein wahrer Kraft- und Gesund-Spender fürs Bindegewebe.
Reizende Knet-Kur mit Tiefenwirkung
Die uralte, chinesische Tuina-Massage wird gerade in Westeuropa als effektiver Bindegewebs-Starkmacher in Eigenregie neu entdeckt
So geht’s: Den Kardinalpunkt 3E5 eine halbe bis eine Minute nur mit warmem Daumen oder Zeige- und Mittelfinger gleichzeitig drücken und kreisförmig massieren. Er liegt drei Finger breit oberhalb der Handgelenksfurche an der Unterarm-Innenseite – zwischen den beiden Hauptsehnen. Dieselbe Massage-Technik nun beim Dickdarmpunkt 4 anwenden. Er befindet sich mittig auf dem Muskel zwischen Daumen und Zeigefinger. Wichtig: Tuina-Massage pro Punkt dreimal täglich wiederholen. Den Druck dabei so stark ausüben, dass es gerade noch erträglich ist.
Bindegewebs-Benefits: Die Tuina-Massage fußt auf dem Meridian- und Akupunktur-System, ist deutlich intensiver als z. B. eine Shiatsu-Massage. Sie startet eine regelrechte Heilkaskade: Ihre Impulse auf Akupunktur-Punkte in Faszien und Bindegewebe regulieren und tonisieren das vegetative Nerven-, Gefäß- und Hormonsystem. Sie harmonisieren auch den Fluss der Körperenergie, beseitigen Blockaden und Störungen. Das garantiert einen gesunden Takt und Tonus des Bindegewebes.
150 % und mehr können sich die elastischen Fasern unseres Bindegewebes dehnen. Und kehren danach wieder problemlos in ihren Ausgangszustand zurück.
Die größten Nährstoff-Helden
Diese 13 Nährstoffe sind Bindegewebs-Spezialisten. Sie versorgen es mit allem, was es braucht, um gesund, stark, elastisch, gleichzeitig stabil stützend zu sein. Pflegen Sie es mit einem bunten Mix, der ihm am Ende einer Woche alle entscheidenden Nährstoffe geliefert hat.
Lysin macht stark: Die Aminosäure ist Co-Regisseur bei der Bildung von Kollagen. Dieses gilt als wichtiges Struktur-Protein im Bindegewebe. Lysin ist deshalb einer seiner Haupt-Starkmacher.
Top Quellen: Walnüsse, Quinoa, Buchweizen, Erbsen, Kürbiskerne, Grünkohl, Haferflocken, Kichererbsen, Linsen, Eier.
Vitamin C sorgt für Kollagen: Für die Synthese des Struktur-Proteins Kollagen benötigt Lysin Vitamin C. Das aktiviert Enzyme, die Lysin in Hydroxylysin umwandeln. Nur diese Lysin- Form ist für die Kollagen-Bildung, damit für ein starkes Bindegewebe, entscheidend.
Top Quellen: Sanddorn, Hagebutten, rote Paprika, Kiwis, Zitrusfrüchte, rote Johannisbeeren.
Eiweiß gibt Halt: Speziell kollagenes Eiweiß macht im Körper ein Viertel der Gesamt-Eiweißmenge aus. Es ist wichtigster Bestandteil des Bindegewebes. Kollagen wird zwar vom Körper selbst gebildet, seine Produktion nimmt aber ca. ab dem 45. Lebensjahr ab. Deshalb sollte dieser Bindegewebs-Stützer reichlich in Nahrungsmitteln stecken.
Top Quellen: Sojabohnen, Skyr, Erdnüsse, Quark, Kefir, Buttermilch, Joghurt, Pute, Parmesan, Lachs, Forelle, Thunfisch.
Mangan und Kupfer regenerieren: Mangan fördert über Spezial-Enzyme, die Transferasen, die Bildung und Regeneration von Bindegewebe. Das klappt optimal im Team-Play mit dem zweiten Spurenelement Kupfer. Beide kann der Körper nicht selbst herstellen, braucht deshalb genug davon im Food.
Top Quellen: Blaubeeren, Haferflocken, Linsen, Birnen, Dinkel, Roggen, Spinat, Ananas, Cashews, Garnelen, Emmentaler.
L-Leucin erneuert: Wie Bob der Baumeister sorgt die Aminosäure (Eiweiß-Bau- stein) Tag und Nacht im Bindegewebe für Zell-Nachschub. Sie ist zudem ein Garant dafür, dass der Protein-Stoffwechsel speziell im Faszien-Anteil des Bindegewebes auf Hochtouren läuft. Hier steht alles auf Erneuerung.
Top Quellen: Lupinenkerne, Spirulina- und Chlorella-Algen, Walnüsse, Hähnchenbrust, Kuhmilch, Eier, Sardinen, Brie, Camembert, Spinat, Sellerie, Blumenkohl, Kohlrabi, Vollkornbrot, Hafer, Hirse, Dinkel, Avocado.
Silizium macht flexibel: Die Kieselsäure beschleunigt die Bildung der Bindegewebsfasern aus Elastin und Kollagen. Elastin hält, wie der Name schon sagt, das Bindegewebe elastisch. Kollagen verleiht ihm seine Festigkeit. Fehlt Silizium, verliert es an Stabilität und Elastizität. Übrigens: Pflanzliche Lebensmittel enthalten meist deutlich mehr Kieselsäure als tierische.
Top Quellen: Dinkel, Hafer, Gerste, Roggen, Kartoffeln, Wildreis, Spinat, Paprika, brauner Reis, Erdnüsse, Datteln, Bohnen, Mineralwasser, Kräuter-Tee aus Acker- schachtelhalm.
Vitamin D stabilisiert: Fast jede Zelle des Bindegewebes besitzt einen Vitamin- D-Rezeptor. Ohne ausreichend aktiviertes Vitamin D im Körper kann das Calcium in unserer Nahrung nicht aufgenommen werden. Das wäre ein Desaster, denn Calcium ist wichtig für Aufbau und Stabilisierung vor allem der Faszien. Es verhindert Steifheit.
Top Quellen: Steinpilze, Pfifferlinge, Kräuterseitlinge, Maronen (Pilze), Hallimasch, Hering, Makrele, Lachs, Eigelb, Tomaten, Avocado.
Magnesium mineralisiert: Damit sich die Kollagen-Fa- sern nicht nur längs, sondern auch quer optimal vernetzen, braucht das Bindegewebe diesen Mineralstoff. In Kombination mit Zink (siehe rechts) und Kupfer schützt es die Bindegewebszellen auch vor angriffslustigen Sauerstoff-Molekülen, den freien Radikalen.
Top Quellen: Mandeln, Sonnenblumenkerne, Leinsamen, Sesamsamen, Kakao, Bitterschokolade.
Eisen liefert Kollagen-Nachschub: Etwa 75 Prozent der Menschen mit Bindegewebs- schwäche haben laut Mayo Clinic einen Eisenmangel. Das Spurenelement ist maßgeblich an der Herstellung von Kollagen-Fasern beteiligt. Es spielt eine große Rolle fürs Bindegewebe von Sportlern. Denn Eisen erhöht den Stoffwechsel im Bindegewebe, das Sehnen und Bänder umhüllt , aber auch in den Faszien. Mehr Leistungsfähigkeit, Ausdauer.
Top Quellen: Linsen, Pistazien, Brunnenkresse, Petersilie, Zwiebeln, Beeren, Aprikosen.
Vitamin K schützt: Das fettlösliche Vitamin aktiviert und stärkt den Eiweißstoff MGP, der die elastischen Fasern im Bindegewebe vor dem Abbau schützt. Besonders, wenn diese durch Mikroentzündungen verkalken. Gleichzeitig erhöht es das reibungslose Funktionieren von elastischen Fasern. Auch unklare Schmerzen durch verklebte, übersäuerte Faszien nehmen ab.
Top Quellen: Rosenkohl, Rapsöl, Sauerkraut, Avocado, Brokkoli, Grünkohl, Rapsöl, Eier, Milchprodukte.
Zink repariert: Das Spurenelement unterstützt die Produktion von Kollagen, dem am häufigsten vorkommenden Protein im menschlichen Körper. Es ist für die Bildung von Bindegewebe verantwortlich, repariert es zuverlässig, kommt auch bei der Wundheilung zum Einsatz.
Top Quellen: Muscheln, Krabben, Shrimps, Erbsen, Bohnen, Kürbiskerne, Sesamsamen, Rindfleisch, Amaranth, Weizenkeime.
Calcium strafft und kräftigt: Es unterstützt die Zellteilung im Bindegewebe. Und sorgt so für eine Elastizität der Spitzenklasse, strafft gleichzeitig und kräftig das Gewebe. On top erhöht Calcium die Leistungsfähigkeit. Ideal für Sportler und Menschen Ü50.
Top Quellen: Quark, Joghurt, Buttermilch, Kefir, Käsesorten wie Gouda, Edamer, Emmentaler, Brokkoli, grüne Blattsalate, Fenchel. Und calciumreiches Mineralwasser mit 150 Milligramm/Liter, Mandel-, Hafer-, Soja-Drinks.
Kalium baut auf: Es aktiviert die Enzyme Bromelain und Papain, die für die Bildung von Kollagen- fasern verantwortlich sind. Wichtig zu wissen: Bei einem langfristigen Kaliummangel kann es zu einer uner- wünschten, vermehrten Bildung von Bindegewebe an Herz und Nieren kommen. Die Organe arbeiten nicht mehr funktionsgerecht.
Top Quellen: Ananas, Nüsse, Aprikosen, Bananen, Trocken- obst, Rhabarber, Feigen, Oliven, Sesamsamen, Scholle..
Dr. Matthias Riedl ist bekannt als Ernährungs-Doc aus dem NDR-Fernsehen. Der Facharzt für Innere Medizin und Diabetologe leitet das medicum Hamburg, Deutschlands größtes Zentrum für Ernährungsmedizin und Diabetologie (medicum-hamburg.de).