
Vor sechs Jahren, als ich feststellte, dass in meinem Bauch ein Kind heranwächst, fing ich bald an, mir Gedanken über Erziehung zu machen. Eine Kollegin sagte damals: „Ganz viel Liebe und Zero Tolerance.“ Super Strategie, dachte ich. Herrlich einfach. „Blödsinn“, sagte ein kluger älterer Herr zu mir, dem ich eine Menge zutraute. „Ganz viel Toleranz, und die Liebe kommt von allein.“ Da saß ich, in der schönsten Zwickmühle zwischen diesen beiden gut klingenden Ideen, lange bevor mein Sohn mit Karacho in die Welt raste. Liebe wirbelte er dabei säckeweise auf – innige, schmerzlich schöne, bedingungslose Liebe, die es mir fast unmöglich machte, überhaupt mal was nicht zu tolerieren. Ich kämpfte mich durch den Berg aus Liebe, während das Kind schrie und Milch spuckte wie ein Besessener und keinen Schlaf zu benötigen schien, im Gegensatz zu meinem Mann und mir.

Es war wie permanent angeschossen zu werden, aber selbst vollkommen unbewaffnet zu sein. Wenn ich in dieser Zeit des Dämmerzustands für einen Moment einen klaren Gedanken fassen konnte, sah ich das wilde Bündel von meinem Sohn an und dachte: Er soll sein dürfen, wie er ist. Er soll frei entscheiden dürfen, wie er leben will. Er soll ausprobieren, was er will, und sich in alle Richtungen bewegen können, aber er wird auch lernen müssen, dass man mit sich selbst niemanden quälen darf. Vor allem, wenn man nicht vorhat, allein durchs Leben zu gehen, außerhalb jeder sozialen Struktur. Das eigene Leben hat Grenzen, und die liegen da, wo es beginnt, anderes Leben zu verletzen.
Toleranz ist flexibel einsetzbar
Und so nahm ich ihn eines Nachts auf den Arm und sagte mit fester Stimme: „Ist gut jetzt.“ Lief nur halb perfekt, aber ich hatte etwas begriffen: Um aus vollem Herzen Ja zu etwas zu sagen, muss man auch mal Nein sagen, ebenso herzhaft . Seitdem ist das eine der zentralen Fragen meines Lebens: Was lasse ich sein, wie es ist – und was lasse ich nicht einfach durchrutschen? Die Krux dabei: Das lässt sich nicht allgemein festschreiben, in einer Art Verhaltenskodex oder als universelle Handlungsanweisung. Das Wesen der Toleranz ist flexibel. Ich muss situationsabhängig und im Moment entscheiden, was ich in Ordnung finde und was nicht, immer wieder aufs Neue. Das ist anstrengend. Das kostet Kraft , denn ich laufe ja nicht den ganzen Tag durch die Welt und beschäftige mich nur mit meiner inneren Debatte über Toleranz.
Tolerieren ist voll im Trend
Ich hab ja auch zu tun. Ich muss mich mit einem Fünfjährigen auseinandersetzen, der mit einem außerordentlich starken Willen gesegnet ist und der immer genau das möchte, was ich gerade nicht möchte. Der an mir zerrt, während ich die Einkäufe nach Hause schleppe und mit einem Auftraggeber telefoniere. Ich muss mich mit dem Auftraggeber auseinandersetzen, während ich nicht weiß, ob ich das, was er haben möchte, leisten kann. Und ich muss mich mit mir auseinandersetzen: Ich bin eine unperfekte Frau und arbeitende Mutter und eigentlich immer am Rande des Nervenzusammenbruchs. Ich würde es mir selbst sofort verzeihen, wenn ich zwischen den Ohren überhaupt keinen Platz mehr für Toleranz hätte. Aber Toleranz ist Coolness, Gelassenheit, irre erwachsen. Und man kann sich eingrooven. Kurz innehalten, bevor man dagegenhält. Sich in Resilienz üben. Lernen, das Leben in seiner wahnsinnigen Wellenhaftigkeit zu nehmen, wie es ist. Es durch sich hindurchfließen lassen. Auch die anderen Menschen. Selbst erst mal die Perspektive wechseln und den Knopf Mitgefühl einschalten, bevor man auf seinem Standpunkt beharrt. Überlegen: Was passiert da eigentlich gerade? Warum? Und wem? Nur mir? Oder auch den anderen? Wenn ich all diese Fragen beantwortet habe und wenn mir die Dinge dann immer noch so über Kreuz liegen, dass ich schlechte Laune bekomme, versuche ich, an den Stellschrauben zu drehen.
Dann hebe ich die Hand und sage: „Aufhören!“ Dann bewege ich meinen gemütlichen Hintern und stelle mich dagegen. Bemühe mich dabei, den Stammtisch wegzulassen und etwas Überraschendes zu tun oder zu sagen. Vielleicht sogar etwas Lustiges. Denn Toleranz ist ja immer dann angepfi ff en, wenn es einen Konfl ikt gibt. Wenn einer was will oder ist oder macht, was ein anderer schlecht oder dumm oder verletzend findet. Dann ist diese komplizierte Fähigkeit Toleranz gefragt. Sie ist genau dafür da: dass nicht jeder kleine Mist eskaliert. Dass es sich in Frieden auflöst.
Tolerant sein gelingt nicht immer
Denn ohne Toleranz kein Zusammenhalt. Das fängt bei dem Menschen an, der neben mir in der U-Bahn sitzt (den kenne ich nicht, der sieht nicht aus wie ich, und der riecht auch anders), und geht bis zu den gut sieben Milliarden Leuten, die auch alle auf dieser Welt leben, und die Tiere und Pflanzen sind ja auch noch da. Da ist Humor vielleicht nicht der häufigste, aber bestimmt auch nicht der schlechteste Partner. Toleranz und die Gabe, das Leben leicht und sich selbst nicht so wichtig zu nehmen, gehören untrennbar zusammen. Was leider auch zur Toleranz gehört, weil sie auf so einem schmalen Grat balanciert: dass sie misslingt. Wenn wir Glück haben, entsteht sie aus der Art, wie wir uns verhalten, dann verbindet sie uns. Wenn wir Pech haben, knallen wir voll daneben. Bei mir sieht das dann so aus: Mein Sohn bockt, mein Mann hat einen Tag voller Kollegen hinter sich und nicht an den Apfelsaft gedacht, im Radio sagen sie, dass es morgen schon wieder regnen soll – und ich flippe aus. Stimme durch die Wohnung, Teller an die Wand, zack, der gemeinsame Abend ist gescheitert. Mit ein bisschen mehr Verständnis fürs Wetter hätt en wir’s aber schaffen können.