Die Gründer der neuen Medizin

Die Gründer der neuen Medizin

Ein Querdenker und eine Ärztin sahen Krankheit nicht als Feind, sondern als Teil des Lebens – und entwickelten die Anthroposophische Medizin.

Medizin © iStockphoto
Medizin

Wenn zwei Welten aufeinanderprallen, kann es zu einem schöpferischen Urknall kommen. So eine kreative Verschmelzung ereignet sich Anfang der 1920er-Jahre, als sich die Lebenswege des Universal-Intellektuellen und Vortragsredners Dr. Rudolf Steiner und der niederländischen Ärztin Ita Wegman berühren. Sie entwickeln gemeinsam eine bahnbrechende Medizin, die dem Patienten einen neuen, tieferen Lebenssinn geben und seine Selbstheilungskräfte aktivieren soll: die Anthroposophische Medizin (abgeleitet von griech. anthropos = Mensch und sophia = Weisheit).

Hundertjährige Erfolgsstory

1904 Steiner stellt die Anthroposophie vor
Ab 1913
baut Steiner das Zentrum der Anthroposophen in Dornach bei Basel, das „Goetheanum“
1921 entstehen in Stuttgart und Arlesheim erste klinisch-therapeutische Institute mit Laboratorien
1925 Veröffentlichung der Grundlagen der Anthroposophischen Medizin
2004 richtet die Universität Witten/Herdecke einen Lehrstuhl für Anthroposophische Medizin ein

Ein rastloser Philosoph trifft auf die Naturwissenschaft

Unterschiedlicher als die beiden Begründer der Anthroposophischen Medizin können zwei Menschen kaum sein. Der eine ist der vor 150 Jahren als Sohn eines kaiserlichen und königlichen österreichischen Bahnwärters im heutigen Kroatien geborene Gelehrte und Philosoph Rudolf Steiner – ein vehementer Kritiker des Maschinenzeitalters. Er schreibt Theater- und Literaturkritiken in den Kulturhochburgen Wien, Berlin und München, unterrichtet Geschichte, Naturwissenschaften und Redekunst. Darüber hinaus fungiert er lange Jahre als Herausgebeer der naturwissenschaftlichen Schriften von Johann Wolfgang von Goethe.
Das Werk Rudolf Steiners umfasst weit mehr als 400 Bände, er hält rund 6000 Vorträge, auf seine ganzheitliche Weltsicht gründen sich heute international mehr als 1000 Waldorf-Schulen. Und schätzungsweise 3000 Bauernhöfe arbeiten nach den Grundlagen der biodynamischen Landwirtschaft, die Steiner begründet hat.
Ein rastloser Mann, immer auf Achse, ein Vor- und Querdenker, der keine Grenzen akzeptiert. Nach dem Vorbild von Goethes Metamorphosenlehre erschafft er den avantgardistischen Kultbau Goetheanum im schweizerischen Dornach, in dem seit 1923 die Freie Hochschule für Geisteswissenschaften residiert.

Der zweite Pfeiler der Anthroposophischen Medizin ist die Niederländerin Ita Wegman, geboren 1876 in Indonesien. Erstmals begegnet sie Steiner 1902, als dieser in Berlin die Deutsche Sektion der Theosophischen Gesellschaft (DSdTG) leitet. Die 26-jährige, sozial engagierte Wegman spürt genau, dass ihr Weg in die Naturwissenschaft führt.
1906 beginnt sie ein Medizinstudium an der Universität Zürich, die als eine der wenigen Hochschulen Europas Frauen zulässt. Schon 1911 schließt die ehrgeizige „Muster-Studentin“ ihre Ausbildung mit dem Arztdiplom ab. Wegman wird Fachärztin für Frauenheilkunde und entwickelt 1917 ein Heilmittel, das Inhaltsstoffe der Mistel enthält – es wird noch heute als begleitende Therapie bei der Krebsbehandlung eingesetzt.
1921 eröffnet die junge Medizinerin in der Schweiz eine anthroposophische Privatklinik – ein klinisch-therapeutisches Institut, die heutige „Ita Wegman Klinik“ in Arlesheim bei Basel.

Heilung auf den Ebenen Körper, Geist, Seele und Lebenssituation

Die schöpferische Berührung von ganzheitlicher Philosophie und naturwissenschaftlichem Denken führt dazu, dass die anthroposophische Medizin nie in einen Widerspruch zu den Erkenntnissen der klassischen Schulmedizin gerät. In ihrem Buch „Grundlegendes zur Erweiterung der Heilkunst nach geisteswissenschaftlichen Erkenntnissen“ schreiben die beiden geistigen „Eltern“ der Anthroposophischen Medizin: „Nicht um eine Opposition gegen die mit den anerkannten wissenschaftlichen Methoden der Gegenwart arbeitende Medizin handelt es sich. Diese wird von uns in ihren Prinzipien voll anerkannt.“
Genauso eindeutig nehmen Rudolf Steiner und Ita Wegman auch Stellung, wenn es um die medizinische Qualitätssicherung der Therapie geht. Diese nämlich, so ihr bis heute gültiges Credo, sollte nicht von irgendwelchen Heilberufen ausgehen, sondern immer von einem „vollgültigen Arzt“, einem Mediziner, der weiß, dass Körper und Geist, die Seele und die Lebenssituation zusammen gesehen werden müssen, um den Patienten zu heilen.

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