
VITAL: In einem Lied der Gruppe Element of Crime heißt es: „Leichen im Keller, Beton im Gemüt“ – wie kommen die Leichen überhaupt in den Keller?
Dorothee Döring: Alles, was mit Schuld und Scham besetzt ist, wird verschwiegen und wandert als Leiche in den Keller. Daran knüpft sich die Hoffnung, etwas Unangenehmes weder sich selbst noch anderen eingestehen zu müssen. Ich unterscheide zwischen den innerfamiliären Geheimnissen, wenn zum Beispiel die wahre Herkunft des Kindes oder eine außereheliche Affäre verschwiegen wird. Und den außerfamiliären, bei denen bestimmte Vorkommnisse gegenüber anderen peinlichst genau verborgen werden – wenn es häusliche Gewalt gibt, der Vater Schulden angehäuft hat oder die Tochter einem zweifelhaften Job nachgeht.
Welche Konsequenzen zieht das Verschwiegene nach sich?
Tabus und Lügen belasten das Familienklima, weil sie wirkliche Nähe und echtes Vertrauen verhindern. Und das über Generationen hinweg! Dadurch wird eine Scheinrealität erzeugt, wo nichts hinterfragt werden darf, weil das Aufdecken der Wahrheit zu tiefen Erschütterungen führen könnte. Oft machen sich die Geheimnishüter auch selbst etwas vor, sie unterliegen einer Illusion, weil sie die Wahrheit nicht ertragen können und sich diese schönreden. Aus diesen Scheinwelten entwickeln sich häufig feste Überzeugungen, auf die das weitere Leben aufgebaut wird.

Worin unterscheiden sich Lebenslügen, Geheimnisse und Tabus?
Wird die Unwahrheit über eine lange Zeitspanne wissentlich als Wahrheit ausgegeben, kann sich daraus eine Lebenslüge entwickeln, die das Fundament für Familiengeheimnisse legt. Gesellen sich dazu noch Schuld und Scham, wird das jeweilige Geheimnis mit einem Tabu belegt: Über die fragliche Tatsache darf nicht gesprochen werden! Während ein Geheimnis ein Geheimnis bleiben kann, muss ein Tabu gebrochen werden, besonders wenn es sich um Gewalt oder Missbrauch handelt. Vom Schweregrad her sind Lebens lügen die gravierendste Form. Im Gegensatz zu Tabus und Geheimnissen wird bei den Lebenslügen jahrzehntelang die konstruierte Realität aufrechterhalten, was viel Kraft kostet und mit Realitätsverlust und Isolation einhergeht.
Welche Lebenslügen wiegen am schwersten?

Die Liste dieser Lügen ist lang. Dazu gehören dramatische Beispiele wie die Verstrickung der Eltern in das Naziregime oder die aktive Mitarbeit eines nahen Verwandten bei der Stasi. Die meisten Familiengeheimnisse werden allerdings konstruiert, um sexuelle Inhalte zu vertuschen: Da wird der leibliche Vater des Kindes verheimlicht, Homosexualität geleugnet, Missbrauch totgeschwiegen, werden ungewollte Kinder abgetrieben oder zur Adoption freigegeben. Suchtprobleme und familiäre Gewalt gehören auch dazu.
Erfüllen Lebenslügen einen Sinn?
Sie dienen dazu, die Wahrheit auszublenden, um etwas Grundsätzliches nicht ändern zu müssen. Wer lügt, leidet oft an einem übersteigerten Anspruch an sich und andere, will Fehler oder Ausrutscher verschweigen und ungeschehen machen.
Wie macht sich so etwas Unausgesprochenes denn bemerkbar?
Durch bestimmte Gesten. Wenn der Gefragte einem nicht in die Augen schaut, ständig das Thema wechselt und versucht abzulenken. Oft ahnt man mehr, dass etwas nicht stimmt, ohne es zu wissen. Einmal kam eine Frau zu mir, die unter der Last des Schweigens litt: Sie hatte vor Jahren eine Affäre gehabt, ein Kind bekommen – und ihren Ehemann glauben lassen, es sei von ihm. Das funktionierte, bis der Junge größer wurde und spürte, dass er seinen Geschwistern kaum ähnelte, und die Mutter nach dem leiblichen Vater fragte. Die Frau verwickelte sich in Widersprüche und reagierte äußerst aggressiv: „Wie kannst du es wagen, so zu denken!“ Mit dieser schroffen Abwehrstrategie ging sie zum Angriff über und vermied es, Stellung nehmen zu müssen. Die Wucht, mit der sie gegen die Wahrheit ankämpfte, zeigt, dass Lebens lügen dauerhaft belasten.
Welche Lebenslügen wiegen am schwersten?
Beschreiben Sie das bitte mal genauer.
Jedes Schweigegebot geht mit einer permanenten Verdrängung einher. Ein Beispiel: Eine Mutter hatte ihr Neugeborenes zur Adoption freigegeben, weil es behindert war und ihr Mann es von ihr verlangte. Anderen erzählten sie, es sei nach der Geburt gestorben, weil sie nie mehr über dieses Thema sprechen wollten. Um ungestört mit der Lüge leben zu können, isolierte sich das Paar, mied sämtliche Kontakte zu Nachbarn und Freunden. Aus Angst, jemand könnte eines Tages durch einen Versprecher oder eine Lücke im Lügengebäude die Wahrheit erfahren. Doch die Frau litt so sehr darunter, mit niemandem darüber reden zu können, dass sie depressiv wurde. Erst in der Psychotherapie konnte sie das selbst auferlegte Tabu durchbrechen und sich von dem ungeheuren Druck, der auf ihr lastete, befreien. Zum Schweigen verurteilte Menschen leiden häufig an Depression und werden krank.
Wer „richtig“ krank ist, bekommt Mitgefühl. Für eine gebeichtete Lüge jedoch erntet man oft Unverständnis oder sogar Verachtung.
Deshalb warten viele Menschen so lange, bis der Druck unerträglich wird, und beginnen erst in größter innerer Not, ihr Schweigen zu brechen. Aber es gibt auch Situationen, in denen Lügen andere schonen können, wenn die Wahrheit schwer auszuhalten ist. Eine Frau vertraute mir an, dass sie ihr viertes Kind eigentlich nicht haben wollte, doch ihrer Tochter erzählte sie, wie sehr sie sich ein viertes Kind gewünscht hatte. Es wäre unerträglich gewesen, dem Mädchen die Wahrheit zu erzählen.
Also ist es nicht immer der beste Weg, die Wahrheit ans Tageslicht zu holen?
Man muss differenzieren zwischen Geheimnissen, die man aufdecken sollte, und jenen, die geheim bleiben können. Ein einmaliger Seitensprung, der die Beziehung nicht infrage stellt, kann verschwiegen bleiben. Da würde ein Geständnis zu viel zerstören. Wobei das jeder für sich entscheiden muss. Ich halte nichts von einer Offenbarung um jeden Preis. Ob man sich von einem Geheimnis befreit oder es hütet, hängt von drei Faktoren ab: der Kontrolle des sozialen Umfelds, der Persönlichkeitsstruktur der Angehörigen und vom Schweregrad des Lügenkonstrukts. Und man muss auch bedenken: Wer sein Schweigen bricht, macht sich angreifbar und sollte darauf vorbereitet sein.
Sind bestimmte Dinge unverzeihlich?
Geheimnisse aufzudecken ist das eine. Wie wichtig ist aber auch, anderen oder sich selbst zu verzeihen?
Die Vergangenheit loszulassen ist nur möglich durch Verzeihen. Die wichtigste Voraussetzung, um sich selbst etwas zu verzeihen, besteht darin, auch die nicht so gelungenen Anteile des Lebens zu akzeptieren. Denn das damalige Verhalten hatte ja Gründe. Für diese Verständnis zu entwickeln kann den inneren Druck abbauen und ermöglicht es, sich neu zu positionieren. Wer sich mit sich selbst und seiner Vergangenheit aussöhnt, übernimmt Verantwortung für sein Handeln und muss nicht mehr an den Defiziten von früher festhalten. Wer zum Beispiel auf die Liebe zu einem Heiratsschwindler oder Straftäter hereingefallen ist, schämt sich später vielleicht dafür. Doch ohne Verständnis für sich selbst verstehen einen auch andere nicht. Und es ist wichtig, um anderen ihre Fehltritte und Fehlleistungen vergeben zu können.
Sind bestimmte Dinge nicht doch unverzeihlich?
Ob ein Kind seiner Mutter verzeihen kann, die ihm seine wahre Herkunft verschwiegen hat, ist fraglich. Wenn überhaupt, kann es nur versuchen, die Motive zu ergründen. In diesem Zusammenhang mag ich das Zitat des Schriftstellers Karl Heinrich Waggerl, der einmal treffend sagte: „Wer verurteilt, kann irren, wer verzeiht, irrt nie.“ Besonders schwer fällt das Verzeihen sicherlich Frauen, die Opfer von sexuellem Missbrauch und Gewalt geworden sind.
Wie können Betroffene so eine schwierige Situation trotzdem auflösen?
Allein das Aufdecken eines Familiengeheimnisses nimmt die Last noch nicht von uns. Zur vollständigen Aufarbeitung gehört wie gesagt Vergebung. Doch das bedeutet keinesfalls, das zugefügte Unrecht zu vergessen, sondern es heißt vor allem, auf Rache zu verzichten. Wer Verletzungen nicht loslassen und die negativ besetzte Vergangenheit nicht abschließen kann, ist nicht frei – und diese Unfreiheit hindert die Person, sich für Neues zu öffnen, um sich besser zu fühlen.
Wie lernt man Verzeihen?
Wie lernt man Verzeihen?
Ein ehrliches Verzeihen setzt einen Perspektivwechsel voraus, mit dem Ziel, sich in den anderen hineinzuversetzen. Das Verstehen der Motive, war um ein Familiengeheimnis aufgebaut und so lange aufrechterhalten wurde, spielt eine bedeutsame Rolle. Kinder, die zum Beispiel aufdecken, dass ihre Väter oder Großväter an NS-Verbrechen beteiligt waren, können das aufgrund ihrer Lebenserfahrung nicht verstehen. Sie können aber versuchen, die Biografie ihrer Angehörigen, die Zeit, in der sie gelebt haben und die sie geprägt hat, mit in ihre Beurteilung einzubeziehen.
Kann das jeder schaffen?
Ja, und merkwürdigerweise fällt es oft leichter, anderen ihre Unzulänglichkeiten zu verzeihen. Sich selbst beurteilt man viel strenger und rigoroser. Verhielten wir uns so strikt gegenüber Freunden und Bekannten so, hätten wir keine Freunde mehr! Nur wer bereit ist, seine dunklen Seiten zu akzeptieren und die auch anderen zuzugestehen, ist zum Verzeihen bereit. Es geht zuallererst darum, Ja zu sich zu sagen, seinem Schicksal, seiner Herkunftsfamilie, seinem Namen, seinem Körper. Sein Leben zu akzeptieren und anzunehmen bedeutet auch, die eigenen Grenzen anzuerkennen, Illusionen und unerfüllbare Träume loszulassen, Bitterkeit und Kränkung abzugeben. Auf diese Weise können Verletzungen heilen. Am Ende des Versöhnungsprozesses soll das Gefühl vorherrschen, im eigenen Leben zu Hause zu sein.
Warum ist es ungesund, sich selbst und anderen nicht verzeihen zu können?
Solange ich jemandem etwas nachtrage, ist nicht der andere das wahre Opfer, sondern ich selbst! Wer nicht verzeiht, straft sich selbst, denn Groll wirkt wie ein schleichendes Gift, das alles zerstört. Und solange wir uns auf unsere seelischen Verletzungen konzentrieren, geben wir dem Menschen, der uns verletzt hat, erhebliche Macht über uns. Verzeihen dagegen hilft, die psychische Balance zu finden. Das erfordert nicht unbedingt eine persönliche Versöhnung, es genügt auch schon, dem anderen mental zu vergeben.