
An skeptische Blicke und ungläubiges Stirnrunzeln hat sich Yvonne Salzmann längst gewöhnt – wenn sie schildert, was sie aus ihrer tiefen Krise geholt hat. Zu stark klingt das Wörtchen „Poesietherapie” nach einer unseriösen Praktik und Geldmacherei. Nicht aber nach einer Behandlung, die nachweislich hilft und sogar in Fachkliniken angewandt wird. Doch tatsächlich: Immer mehr Ärzte und Therapeuten vertrauen auf die heilsame Wirkung von Worten – eben auf die Poesietherapie. „Als mein Hausarzt mir eröffnete: "Burnout! Ihr Körper ist am Ende", wusste ich, dass ich nur mit fachlicher Hilfe aus meinen eingefahrenen Mustern herauskomme”, sagt Yvonne Salzmann. Die 38-jährige selbstständige Agenturchefin quälte sich zuvor monatelang mit Schlafstörungen unStimmungsschwankungen herum, dazu Blackouts und Konflikte mit dem Partner.
Doch die ganze Zeit über hatte die Geschäftsfrau als Ursache nur den beruflichen Stress gesehen, die permanenten 12-Stunden- Tage im Büro und das zusätzliche Arbeiten am Wochenende. Erst als der Arzt ihr die rote Karte zeigt, zu einer Auszeit rät, gibt sich Yvonne Salzmann geschlagen und geht ihr Unwohlsein an. In der Klinik wählt sie zunächst nur eine klassische Gesprächstherapie, dazu Neuraltherapie und Akupunktur. Doch in ihr Innerstes dringt keine dieser Therapien. In den Gesprächen schiebt Yvonne Salzmann selbst einen Riegel vor – zu sehr ist sie ein Kopfmensch, steuert sich und ihr Gesagtes, überlegt genau, was sie erwähnt und was sie unausgesprochen lässt. So wie sie es seit Jahren tut. „Von anderen Klinikpatienten hörte ich dann von der Poesietherapie”, erzählt Yvonne Salzmann. „Ich habe schon immer gerne geschrieben, es gehört schließlich auch zu meinem Job. So dachte ich, das könnte auch etwas für mich sein.”
Farben des Lebens
Die Sitzungen mit fünf anderen Patienten beginnen stets mit einer Entspannungsübung. Die Teilnehmer sollen sich auf ihre Atmung konzentrieren, die Gedanken wandern lassen. „Danach zeigte uns die Therapeutin beispielsweise ein Bild, und auf das Kommando ,Los!‘ sollten wir alle beginnen, aufzuschreiben, was uns zu dem Bild einfällt”, beschreibt Yvonne Salzmann. Die Aufgabe ist leicht – es gibt kein Soll, das erfüllt werden muss, so dass sie tatsächlich nicht nachdenkt. Es ist, als löse sich in ihr ein lang verhedderter Knoten. Als die Therapeutin nach 15 Minuten die Patienten bittet, den Stift niederzulegen, hat Yvonne Salzmann fast zwei Seiten geschrieben.
Für sie wie eine Befreiung, für eine erfahrene Therapeutin wie Dr. Silke Heimes kein Wunder. „Während dieses Schreibens und bereits davor durchlaufen die Patienten verschiedene Phasen der Reflexion”, erklärt Dr. Silke Heimes. „Es beginnt mit der sogenannten Inspirationsphase, in der die Schreibenden Informationen sammeln, die entweder aus der eigenen Seele oder der Umwelt stammen. In der zweiten Phase, der Inkubationsphase, wird mit dem gewonnenen Material gedanklich oder schriftlich gespielt, es wird erweitert und verdichtet, Teile werden verworfen. Die beiden Phasen leben von der Unvoreingenommenheit der Schreibenden. In der Poesietherapie ist es wichtig, sich vom Anspruch zu befreien, etwas literarisch Wertvolles aufs Papier zu bringen. Es geht um eine wertfreie Haltung, die Teilnehmer müssen erkennen, dass sie keine bestimmte Leistung erbringen brauchen. Grammatik und Orthografie sind völlig nebensächlich.”
Auf und ab
Dr. Silke Heimes, studierte Ärztin aus Darmstadt, hat sich vor zehn Jahren auf diese Therapieform spezialisiert. Sie sieht sie als zusätzliches Mittel im Genesungsprozess. „Die Poesietherapie kann einen Patienten zwar nicht heilen, aber sie kann den Heilungsprozess unterstützen. Häufig bremsen unklare Gefühle, Unsicherheiten, Erinnerungen und Ängste die Genesung”, meint Heimes. „Durch das tägliche kontinuierliche Schreiben kann Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten entwickelt werden und die Patienten gewinnen das Gefühl, aktiv an der Lösung der eigenen Lebensprobleme beteiligt zu sein.”
Für Yvonne Salzmann ist diese Art von Therapie genau richtig. Denn in ihr schlummert zu viel Unbewusstes, starre Barrieren, wie ihr bei einer Aufgabe in der Poesietherapie klar wird. „Als wir ein Gedicht schreiben sollten, war ich die Einzige in der Gruppe, bei der sich die Zeilen reimten”, erinnert sich Yvonne Salzmann. „Für mich musste sich ein Gedicht reimen, so kannte ich es und so gehörte es sich für mich.” Yvonne Salzmann setzte sich mit dem selbst auferlegten Soll, zu reimen, selbst unter Druck. Sie will funktionieren, alles soll gut sein, sie will nichts falsch, vielmehr allen es nur recht machen. Die Therapeutin vermutet hinter dem Zwang zum Reim bei Yvonne Salzmann auch ein großes Harmoniebedürfnis und trifft damit bei der Geschäftsfrau einen wunden Punkt.
Denn die weiß, dass sie Konflikten häufig aus dem Weg gegangen ist, dass vieles unausgesprochen blieb zwischen ihr und ihrem Partner und dass sie auch im Job viel zu oft eingesteckt hat. „Die Poesietherapie hat mir Wichtiges vor Augen geführt. Wenn ich mein Geschriebenes einige Tage später noch mal gelesen habe und wir in der Gruppe darüber diskutierten, war ich verblüfft, was auf dem Papier stand. Es waren Gedanken und Gefühle, vor allem Verlust- und Existenzängste, von denen ich zwar wusste, die ich aber nie laut ausgesprochen hätte”, bestätigt Yvonne Salzmann.
Farbenfroh und bunt
Es ist die Verbindung zwischen dem Bewussten und dem Unbewussten, die die Poesietherapie so besonders und auch so wirkungsvoll macht. Was manch einen zur Sprachlosigkeit bringt, findet auf dem Papier plötzlich seinen Platz. In Amerika ist die Poesietherapie daher bereits seit Mitte der 60er Jahre neben der Mal-, Tanz und Musiktherapie als ein Zweig der Kunsttherapie etabliert, anerkannt und auch erforscht.
Gabriele L. Rico, amerikanische Kunstpädagogin, hat bei ihren Untersuchungen z. B. festgestellt, dass durch das Schreiben ungenutzte Bereiche des Gehirns aktiviert werden. Durch die freie Assoziation im Schreiben kommt es zu einer Zusammenarbeit zwischen den beiden Gehirnhälften. Die linke Gehirnhälfte, die unsere Gedanken kontrolliert, analysiert und ordnet, zudem verantwortlich ist für unsere Sprache, das Schreiben und Lesen, verbindet sich mit der rechten Gehirnhälfte, die für das Emotionale steht, für das Intuitive, Nonverbale und die Fantasie. Um diese Verbindung anzuregen und zu unterstützen, gibt es in der Poesietherapie die verschiedenen Übungen.
Trotz und auch gerade wegen der Einfachheit dieser Therapie reagieren etliche Patienten zunächst irritiert auf die Schreibübungen. Zu schwer ist für sie die Vorstellung, dass Stift und Zettel Gleiches bewirken sollen wie Medikamente oder bewährte Gesprächstherapien. „Dabei sind es tatsächlich gerade psychische Erkrankungen wie Angst- und Zwangsstörungen, Depressionen oder Burnout, bei denen wir die Poesietherapie einsetzen”, erklärt Prof. Dr. Hans Ulrich Seizer aus Rottenburg. „Das Gefühl der Resignation und Ohnmacht, das geminderte Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl, das mit zahlreichen psychischen Leiden einhergeht, erhält ein Gegengewicht, die Poesietherapie vermittelt auf diese Weise ein Gefühl der Selbstkontrolle.”
Schönes vergeht, Neues entsteht
Yvonne Salzmann kann sich durch die Poesietherapie endlich ihren Ängsten stellen. Sie hat sie aufs Papier gebracht – ein erster Schritt. In den Gruppengesprächen spricht sie daraufhin offen über ihre Unsicherheiten, auch in anderen Therapien stellt sie sich den lang verdrängten Problemen. Fast zwangsläufig trennt sie sich während des Klinikaufenthalts von ihrem Partner. „Ich war ein neuer Mensch geworden. Ich spürte, dass ich Zeit und Raum für mich haben möchte.” Nach dreieinhalb Monaten verlässt sie die Klinik.
Vieles ist wie früher, die Freunde sind noch da, genauso ihre Agentur, vieles aber hat sich auch verändert. „Vor der Therapie war ich eine Frau, die sich fast ausschließlich über ihren Job definierte. Dabei habe ich verdrängt, dass es in mir auch eine sehr sensible, weibliche Seite gibt. Durch das Schreiben habe ich diese Seite nach außen gekehrt”, resümiert Yvonne Salzmann.
Sie ist noch immer Single, nimmt sich Zeit für sich – und Zeit fürs Schreiben. Abends bringt sie regelmäßig ihre Gedanken und Gefühle zu Papier. Derzeit sitzt sie sogar an einem Frauenroman. „Mal sehen, ob das was wird”, ist Yvonne Salzmann gespannt – und manchmal schreibt sie auch ein Gedicht. Dann aber auf jeden Fall eins, das sich nicht reimt…
Buch-Tipps:
„Poesie und Therapie. Über die Heilkraft der Sprache: Poesietherapie, Bibliotherapie, Literarische Werkstätten“ von Hilarion G. Petzold und Ilse Orth, Aisthesis Verlag, 432 Seiten, 29,80 Euro
„Schreib es dir von der Seele: Das Praxisbuch zum kreativen und expressiven Schreiben“ von Silke Heimes, Droemer Knaur, 192 Seiten, 7,95 Euro (ab Januar 2010)
Weitere Informationen sowie Adressen von Therapeuten gibt es bei der Deutschen Gesellschaft für Poesie- und Bibliotherapie e. V., www.dgpb.org
Poesietherapie für zu Hause
Poesietherapie für zu Hause
Übung 1
Begleiten Sie sich innerhalb der nächsten sieben Tage ganz bewusst, indem Sie sich jeden Tag 10 Minuten achtsam mit sich und Ihrer Umgebung beschäftigen. Achten Sie auf Geräusche, Gerüche, beobachten Sie die Menschen um sich herum. Verzichten Sie darauf, das Geschriebene direkt im Anschluss zu lesen, zu zensieren und zu korrigieren. Lesen Sie die Texte erst am Ende der Woche. Verfassen Sie dann einen Text darüber, was die geschriebenen Zeilen an Gedanken und Gefühlen in Ihnen ausgelöst haben.
Übung 2
Notieren Sie innerhalb von 10 Minuten, wie Sie sich selbst sehen. Versuchen Sie dabei, fair zu sein, Schwächen und Stärken zu notieren, ohne sich selbst zu kritisch zu beurteilen. Nehmen Sie ein zweites Blatt und notieren dann innerhalb von 10 Minuten, was Sie glauben, wie andere Sie sehen. Zuletzt notieren Sie auf einem dritten Blatt, wie Sie gern wären, wobei Sie kein überzogenes Ideal im Auge haben sollten. Legen Sie dann das erste Blatt und das dritte Blatt nebeneinander, vergleichen die beiden und fragen Sie sich, wie sehr Sie möglicherweise bereits der Person entsprechen, die Sie gern wären.
Übung 3
Beschreiben Sie Ihr aktuelles Gefühl. Benutzen Sie hierfür die sechs Primärgefühle Angst, Wut, Trauer, Freude, Scham und Schuld. Beschreiben Sie, wo genau Sie das Gefühl spüren – im Bauch, im Hals, in den Händen – und wie sich das Gefühl äußert – z. B. als Stein, als Kloß, als Zittern. In einem zweiten Schritt notieren Sie dann, wie Sie sich dem Gefühl entsprechend verhalten müssten. Danach halten Sie in einem dritten Schritt fest, was Sie daran hindert, sich so zu verhalten, wie es Ihnen am ehesten entsprechen würde.
Übung 4
Stellen Sie sich bei geschlossenen Augen eine Farbe vor. Sie befinden sich jetzt in einem Raum, der ganz in diesem Ton gehalten ist. Boden, Wände, Decke – alles gleich. Fragen Sie sich, welches Gefühl die Farbe in Ihnen auslöst, ob sie warm oder kalt ist, einen Geruch oder Geschmack hat und welche Erinnerungen, Gedanken und Gefühle sie auslöst. Dann öffnen Sie die Augen und schreiben auf, was Sie in dem Raum gerade erlebt, gefühlt und gedacht haben und warum Sie gerade diese Farbnuance als Ihre bezeichnen.