Stimulierung der Selbstheilungskräfte

Das Ziel der Anthroposophischen Medizin: die Selbstheilungskräfte des Patienten stimulieren und ihn individuell behandeln – als Ergänzung zur Schulmedizin.

Lächelnde Frau© iStockphoto
Lächelnde Frau

Vorurteile kursieren viele. Sie drehen sich um Ärzte mit wallenden Seidentüchern um den Hals, ätherisch schwebende Gutmenschen und entrückt bei Schummerlicht und Duftkerzen tanzende Frauen. Alles falsch! Denn obwohl die Anthroposophische Medizin ein komplexes und immer noch relativ junges Denksystem darstellt, ist sie doch fest in der klassischen medizinischen Wissenschaft verwurzelt. Nur etwas anders eben – nachhaltiger und umfassender.

Der Hamburger Internist und Gastroenterologe Prof. Dr. Volker Fintelmann erklärt: „Die Anthroposophische Medizin baut eindeutig auf der naturwissenschaftlichen Medizin auf, richtet ihren Blick aber aus einer geisteswissenschaftlichen Sicht heraus auf die Individualität oder Persönlichkeit des Menschen, seine Besonderheit und Einmaligkeit.“

Die Erkenntnisse der modernen Immunologie bestätigen all das, was der Philosoph Rudolf Steiner und die Frauenärztin Dr. Ita Wegman schon vor fast 90 Jahren in eine neue, individuell geprägte Medizin umsetzten. Der Immunologe Prof. Hans Wigzell vom Stockholmer Karolinska-Krankenhaus sagte dazu auf einem Kongress in Järna/Schweden: „Alle Fakten unserer Immunologie zeigen, dass jeder Mensch sein einzigartiges, unvergleichbares Immunsystem hat, von dem es keine Kopie gibt."
Deshalb nimmt sich ein anthroposophischer Arzt auch mehr Zeit für die Anamnese als ein anderer Hausarzt. Er fragt nicht nur nach den Schmerzen, wo, wie oder wann es wehtut. Er will mehr wissen – fast alles. Wie es um den Schlaf steht, ob die Jobsituation einen überfordert, wie es mit den sozialen Kontakten aussieht, ob die Patientin schlecht träumt, wie sie sich tief in ihrem Inneren fühlt, ob sie meint, ihr Gleichgewicht sei aus der Balance geraten.
Erst nachdem er Umfeld und Persönlichkeit der Patientin umfassend abgeklopft hat, stellt er einen maßgeschneiderten Therapieplan auf. Behandelt wird dann nicht pauschal das Sodbrennen oder die Blasenentzündung, sondern die individuelle Kranke in ihrer spezifischen Situation.

Rudolf Steiner:

"Der Gedanke ist eine Kraft wie die elektrische Welle."

Hinter der einfühlsamen Rundum-Anamnese und der genauen Beobachtung der Patientin steckt das von Steiner und Wegman entwickelte Prinzip der vier Wesensglieder, eine komplexe Gliederung des menschlichen Organismus. Zunächst wird der „physische Leib“ gecheckt, wie bei jedem anderen Arzt mit Untersuchungen wie Blutbild, Blutdruckmessen oder einem EKG. Dann widmet er sich den anderen drei Wesensgliedern.

Einige der Bezeichnungen wie etwa „Astralleib“ muten ein wenig veraltet an. Doch dahinter stehen Erkenntnisse, die auch die moderne Forschung mitträgt. Prof. Dr. Fintelmann: „Dieser Leibbereich ist Träger der sehr feinstofflich vermittelten immunologischen und endokrinen, also hormonbildenden, Systeme. Es hilft, zu beobachten, wie endokrine Organe wie beispielsweise die Schilddrüse unmittelbar mit Emotionalität verbunden sind.“

Zusätzlich zu den vier Wesensgliedern unterscheidet die Anthroposophische Medizin drei Funktionsbereiche: Ein „Kopfpol“ beherrscht das Nerven-Sinnes-System, ein „rhythmisches System“ kontrolliert die Funktionen von Herz und Kreislauf und ein „unterer Pol“ die Stoffwechselfunktionen. „Vom Stoffwechselpol gehen Auflösungsprozesse aus, die wir als Regeneration kennen, zum Beispiel das Absterben der Schleimhaut, damit sich eine verjüngte neue bilden kann“, so Prof. Dr. Fintelmann. Die insgesamt zugegebenermaßen eher grobe Unterteilung erlaubt aber oft erste Hinweise darauf, was die innere Balance des Patienten stört.

Intellektuelle Menschen mit einem überaktiven Kopfpol etwa neigen dazu, im unteren Stoffwechsel-Gliedmaßen-System zu schwächeln. Das führt leicht mal zu Bauchweh, Durchfall oder Verstopfung. Bei einem geschwächten mittleren, rhythmischen Pol häufen sich Herz- und Lungenleiden. Tatsächlich bekommen besonders viele Schichtarbeiter, die gegen den normalen Tag-Nacht-Rhythmus leben, Herzerkrankungen. Einzelne Studien bringen aber auch die langjährige Nachtarbeit etwa von Stewardessen oder Kellnerinnen mit einem leicht erhöhten Brustkrebsrisiko in Verbindung.

Deshalb ist es eines der zentralen Anliegen der Anthroposophischen Medizin, den natürlichen Biorhythmus wiederherzustellen, die Disharmonie zum universellen Rhythmus aufzulösen. Dementsprechend wird mit rhythmisierten Medikamenten, rhythmischen Massagen oder der Heileurythmie gearbeitet. Zu den weiteren Besonderheiten der Anthroposophischen Medizin zählen künstlerische Therapien wie das plastische Gestalten von Tonerde oder anderen Materialien, die Mal- oder Musiktherapie. Sie alle haben das Ziel, die Selbstheilungskräfte zu mobilisieren und die bei einer Krankheit gestörte Einheit von Geist, Leib und Seele wieder in Einklang zu bringen.

In Deutschland wurde die Anthroposophische Medizin 1976 im Arzneimittelgesetz als „besondere Therapierichtung“ verankert, weltweit wird sie in über 80 Ländern praktiziert. Rund 1000 Mitglieder zählt die Gesellschaft Anthroposophischer Ärzte in Deutschland (GAÄD). Experten schätzen aber, dass bundesweit etwa 3000 bis 4000 Ärzte mit anthroposophischen Arzneimitteln arbeiten. Dazu kommen drei Akutkrankenhäuser: die Filderklinik in Filderstadt, das Gemeinschaftskrankenhaus Havelhöhe in Berlin und das Gemeinschaftskrankenhaus Herdecke, die sich alle der Schulmedizin und einer seriösen Komplementärmedizin zugleich verpflichtet fühlen.

Das Behandlungsziel der Anthroposophischen Medizin ist nicht, fehlende Substanzen im Körper wie Insulin oder Sexualhormone zu ersetzen. Auch nicht, bestimmte Keime z.B. durch den Einsatz von Antibiotika auszurotten wie in der Schulmedizin. Denn „Bakterien gelten in der Anthroposophischen Medizin nicht als Ursache von Krankheit, sondern als Ausdruck gestörter Verhältnisse im Organismus, die den Erregern Gelegenheit geben, Fuß zu fassen“, so Prof. Dr. Fintelmann. Anthroposophische Mediziner ermuntern den Patienten vor allem, sich aktiv mit seiner Krankheit auseinanderzusetzen.

Im Therapiekonzept spielt auch die Ernährung eine wesentliche Rolle. Ergänzend zu den Heilmitteln raten anthroposophische Ärzte zu einer weitgehend vegetarischen Ernährung, zu biologisch-dynamischen Produkten, viel Gemüse, pflanzlichem Eiweiß aus Bohnen, Linsen oder Tofu, Obst und naturbelassenen pflanzlichen Ölen. Eher abgeraten wird von konservierten Nahrungsmitteln, Fertiggerichten, Weißmehlprodukten, zu viel Fleisch und Gemüsesorten aus der Gattung der Nachtschattengewächse wie Kartoffeln, Tomaten und Paprika. Nach 14 Uhr sollten Patienten möglichst eine leichte, kohlehydrathaltige Kost zu sich nehmen. Auch diese Empfehlungen stimmen weitgehend mit dem heutigen Wissensstand der modernen Ökotrophologie überein.

Vier Wesensglieder

Die Erfolgsbilanz der Anthroposophischen Medizin kann sich heute durchaus sehen lassen und wird durch hochseriöse Studien belegt. Zum Beispiel von der „Anthroposophische Medizin Outcomes-Studie“ (AMOS), finanziert unter anderem von zwei Krankenkassen und erhoben vom Institut für Sozialmedizin, Epidemiologie und Gesundheitsökonomie an der Berliner Charité unter Beteiligung von 141 deutschen Ärzten und 202 Therapeuten.

Vier Jahre lang überprüfte das Team den Krankheitsstatus von rund 898 Patienten mit verschiedenen Dauererkrankungen. Das Ergebnis verblüffte viele. Prof. Dr. Fintelmann: „Bei 86 Prozent der Patienten mit chronischen Krankheiten wie psychischen Beschwerden, Asthma, Wirbelsäulenleiden, Kopfschmerzen oder chronischer Sinusitis trat eine eindeutige Besserung ein. Und die Dauer des Klinikaufenthalts verkürzte sich durch den Einsatz der Anthroposophischen Medizin um durchschnittlich 4,2 Prozent.“ Ein angenehmer Nebeneffekt für das überlastete Gesundheitssystem: Langfristig sanken laut Studie die Kosten um 416 Euro pro Patient – das sind ca. 15 Prozent.

Ebenso sehr erstaunten die deutlich geringeren Arzneimittel-Nebenwirkungen. Litt bei schulmedizinischen Medikamenten etwas mehr als jeder zehnte Patient unter unangenehmen Begleiterscheinungen der Therapie, klagten darüber bei anthroposophischen Arzneimitteln nur 4,5 Prozent. Auch bei akuten Leiden zeigten sich Vorteile. „Im Krankenhaus Hamburg-Rissen konnten wir zeigen, dass eine nicht antibiotische anthroposophische Therapie gegen Lungenentzündung den Klinikaufenthalt bei 200 Patienten im Durchschnitt um drei Tage verkürzte. Interessanterweise verringerte sich auch die Dauer des Fiebers“, berichtet der Internist Fintelmann. Die Patienten konnten zudem schneller wieder in den Arbeitsprozess zurückkehren.

Aufsehen erregte auch die groß angelegte IIPCOS- Studie (International Integrative Primary Care Outcomes Study) mit 1016 Patienten aus 29 Hausarztpraxen in Deutschland, Österreich, den Niederlanden, Großbritannien und den USA. Dieser zufolge erzielte die anthroposophische Therapie akuter Atemwegs- oder Ohrenbeschwerden einen günstigeren Krankheitsverlauf als bei schulmedizinischer Behandlung.

Das wichtigste Ergebnis der Studie lautet aber: In der Anthroposophischen Medizin fällt die Verschreibungsrate von Antibiotika deutlich niedriger aus als in der Schulmedizin. Das nützt allen, denn laut Krankenkassenstatistiken sind bis zu 80 Prozent der Antibiotikaverschreibungen unnötig. Sie werden zu schnell, zu leichtfertig und falsch eingesetzt – vor allem bei akuten leichten bakteriellen Atemwegserkrankungen. Aber auch bei Virusinfekten, bei denen sie „konstruktionsbedingt“ überhaupt nicht helfen können. Durch den Einsatz anthroposophischer Mittel wirken Ärzte also dem rasant wachsenden Problem der Antibiotikaresistenzen entgegen. Denn schon heute stehen für Krankheiten wie Lungenentzündung kaum noch Mittel zur Verfügung, die die Erreger wirksam bekämpfen.

Der „physische Leib“ meint den sichtbaren Körper. Er lässt sich wissenschaftlich bis auf die Molekularebene vermessen, wiegen oder analysieren. Zu dieser Ebene gehören alle Auf-, Um- oder Abbauprozesse des Organismus, z. B. der Stoffwechsel und die Hormonproduktion. Gesteuert wird er von der Energie des Ätherleibes.

Der „Ätherleib“ bewirkt Wachstum, Erhalt und Erneuerung des Organismus. Ist seine Kraft zu stark, kann es zu unkontrollierten Zellwucherungen kommen. Ist sie zu schwach, kann der physische Leib Abfallprodukte nicht mehr ausreichend entsorgen, was zu Krankheiten wie Nierensteinen, Gicht oder Kalkablagerungen in den Arterien führt.

Der „Astralleib“ ist die Quelle der menschlichen Instinkte und unserer seelischen Antriebskräfte. Ein Übermaß an seelischer Aktivität kann Entzündungen oder fiebrige Erkrankungen verursachen.

Der „Ich-Leib“
bildet das Zentrum des Menschen. Er vermittelt Ziele und Sinn und bestimmt die individuelle Persönlichkeit. Wird er zu stark von den anderen Wesensgliedern beeinflusst, kann das z. B. zu lähmungsartigen Erkrankungen führen.

Weil der Mensch ein so komplexes Wesen ist, behandelt ihn die Anthroposophische Medizin auf vier verschiedenen Ebenen.

Auf der „somatischen Ebene“ kann mit schulmedizinischen Maßnahmen nahezu augenblicklich eine Besserung erzielt werden. Beispiel: Ein Patient leidet unter äußerst schmerzhaften Nierenkoliken. Hier schafft eine krampflösende Spritze oft Linderung – wie in der Schulmedizin. Danach wirkt der Patient gesund, weil er symptomfrei ist.

Die „prozessuale Ebene“ konzentriert sich darauf, die Ursachen einer Erkrankung zu erkennen und zu bekämpfen. Ein zu hoher Blutdruck etwa wird durch Medikamente gesenkt, fehlende Hormone werden ersetzt.

Auf der „seelischen Ebene“ klärt der Arzt, in welchem Maße seelische Probleme die Krankheitsentstehung beeinflussen. Bei rund der Hälfte der Herzpatienten z. B. sind nicht Rauchen oder Übergewicht die Verursacher, sondern Zukunftsängste, depressive Verstimmungen oder Einsamkeit.

Die „individuelle Ebene“ geht davon aus, dass die spezielle Persönlichkeit des Patienten der eigentliche Motor ist, der den Gesundungsprozess voranbringt.