
Sie sitzen mit ein paar Leuten zusammen und alle hören nur auf ihn. Er verbindet kluge Worte zu wohlklingenden Sätzen. Seine klare Stimme durchflutet den ganzen Raum. Dabei spricht er gar nicht besonders laut, aber sehr souverän. Dieser Mensch hat Charisma! Sie sind fasziniert – genau wie alle anderen in dieser Runde. Wenn man Sie jetzt fragen würde, welchen IQ dieser Mann hat, was würden Sie schätzen? Viele von uns empfinden einen rhetorisch begabten Menschen als besonders intelligent. Und schätzen ihn auch sonst eher positiv ein, z.B. als scharfsinnig, kreativ, talentiert. Dabei ist er (zunächst) nur ein guter Redner. Ob mehr dahintersteckt, müssen wir erst herausfinden.
Doch zu dieser Tiefenprüfung kommt es häufig gar nicht. Denn ein Merkmal – hier die Redegewandtheit – überstrahlt alle anderen. Sozialwissenschaftler nennen dieses Phänomen Halo-Effekt (abgeleitet von dem griechischen Wort „hálos“, das so viel wie „Lichthof“ bedeutet). Dadurch erscheint eine Person in einem bestimmten Licht, weil wir uns von einer hervorstechenden Eigenschaft blenden lassen. Die Folge: ein verzerrtes Urteil. Das gilt im positiven wie im negativen Sinn. Denn manche Menschen bewerten wir in ihrem Gesamtbild viel negativer, nur weil uns eine Eigenschaft an ihnen besonders nervt. Vielleicht hat ja der ewig nörgelnde Kollege doch mehr Potenzial, als wir ihm zutrauen? Um das herauszufinden, müssen wir unsere soziale Wahrnehmung schärfen. Die folgenden Schritte können dabei helfen.
Informationen sammeln
Informationen sammeln Was wissen wir über einen Menschen, wenn wir ihm zum ersten Mal begegnen? Was wir sehen: ein nachdenkliches Gesicht, unrasierte Haut, ein legeres Hemd mit Farbflecken. Was wir hören: eine rauchige Stimme. Was wir spüren: ein bestimmter Händedruck. Was wir riechen: eine Mischung aus Terpentin und Schweiß.
Wir registrieren das, was in diesem Moment wahrnehmbar ist. Eindrücke – nicht mehr. Und doch formt sich sofort eine ziemlich genaue Vorstellung, wer er oder sie wohl sein könnte: vielleicht ein Künstler? Unser Gedächtnis verbindet Empfindungen zu einem konkreten Bild. Es nutzt vorhandene Wissensstrukturen, „Schemata“, um jedem neuen Sinneseindruck eine Bedeutung zuzuordnen. Unsere Vorstellung von einer Person wird umso klarer, je mehr Eindrücke wir sammeln. Möglichst auf mehreren Kanälen. Oft sagen nonverbale Signale wie Körperhaltung, Mimik und Gestik mehr als das gesprochene Wort. Nehmen wir an, Sie treffen eine alte Bekannte und fragen, wie es so geht. „Bei uns läuft’s prima“, hören Sie. Aber das Auge nimmt etwas anderes wahr – Augenringe und blasse Haut. Auf den ersten Blick irritieren solche paradoxen Botschaften, sogenannte „double-binds“. Aber sie inspirieren uns auch, genauer zu beobachten und nachzufragen. Das gelingt umso besser, je entspannter wir selbst sind und je mehr Zeit wir uns für den anderen nehmen. Genau wie eine buddhistische Weisheit sagt: „Der wichtigste Mensch in unserem Leben ist immer der, der uns gerade gegenübersteht.“
"Schubladen" hinterfragen
„Schubladen“ hinterfragen
Wen wir wirklich in unserem Gegenüber sehen, entscheiden sogenannte implizite Persönlichkeitstheorien: eigene Vorstellungen, welche konkreten Eigenschaften eine Person haben sollte. Nach einer Studie der kanadischen Sozialpsychologen C. Hoffmann, I. Lau und D. Johnson verbinden viele von uns mit einer „Künstlernatur“ jemanden, der kreativ ist, launisch und ernsthaft, aber auch temperamentvoll und einen eher unkonventionellen Lebensstil pflegt. Jedenfalls in unserer westlichen Welt. In der Vorstellung der Chinesen zum Beispiel existiert ein solcher Persönlichkeitstypus nicht. Die Kultur und unsere eigene Geschichte bestimmen die Erwartung, mit der wir auf den anderen zugehen. Schon bevor wir ihn kennenlernen, haben wir eine ganze Menge Informationen über ihn als Mitglied einer sozialen Gruppe.
Diese Stereotype betonen meistens eine Eigenschaft ganz besonders. „Männer sind nicht multitasking-fähig“, heißt es pauschal. Dem Einzelnen wird das nicht gerecht. Eine Schattenseite vieler Stereotype: Sie verallgemeinern stark und zum Teil sogar falsch. Sie haben aber auch eine gute Seite: Sie strukturieren unsere innere Abbildung der Welt. Darum richten wir im Kopf soziale Kategorien ein, „Schubladen“. Eine für „unflexible Beamte“, eine andere für „zerstreute Professoren“ oder vielleicht auch für „spleenige Künstler“. Egal welche Etiketten wir verwenden, jeder nutzt ein mentales Ablagesystem, um neue Eindrücke einzuordnen. Ansonsten würde uns die tägliche Flut an Informationen überschwemmen.
Ob Sie nun diese Bilder im Hinterkopf haben oder andere, Sie können keinem Gegenüber vorurteilsfrei begegnen. Es sei denn, Sie erkennen das Stereotyp und ignorieren es dann bewusst. Die Sozialwissenschaftlerin Patricia Devine von der University of Wisconsin bezeichnet diese Strategie als „kontrollierte Informationsverarbeitung“. Stellen Sie sich vor, Sie sind Personalchefin. Im Vorstellungsgespräch sitzt Ihnen ein älterer Bewerber gegenüber. Skepsis steigt in Ihnen auf, weil er die 50 längst überschritten hat. Achtung, Stereotyp! Jetzt könnten Sie sich sagen: „Es ist nicht fair, ihn wegen seines Alters abzulehnen.“ Für einige Zeit würde das Vorurteil verdrängt – und der Bewerber bekäme eine Chance. Ein großer Schritt in Richtung Toleranz. Zumindest auf den ersten Blick.
Denn an Ihrer inneren Einstellung hätte diese Strategie vermutlich nichts geändert. Was würde Sie von Ihrer Meinung wirklich abbringen? Argumente? Mehr Informationen über Arbeitnehmer mit Etikett „Ü50“? Wahrscheinlich weder noch. Vorurteile werfen wir meist erst dann über Bord, wenn uns die eigene Erfahrung dazu zwingt. Also durch Kontakt mit älteren Kollegen im Arbeitsalltag. Vielleicht in einem Projekt, wo alle gemeinsam ein Ziel erreichen sollen. Da zählen dann persönliche Stärken: Erfahrungen, Kompetenz, Ideen. Von jedem – egal ob jung oder alt.
Erwartungen relativieren
Erwartungen relativieren
Keiner von uns weiß, wer der andere tatsächlich ist, niemand kann Verhalten sicher vorhersagen. Sonst käme es nicht zu so fatalen Personalentscheidungen, Amokläufen oder der zweiten Hochzeit mit demselben Mann. Prognosen sind deshalb so schwierig, weil soziale Wahrnehmung selektiv ist: Wir beobachten jemanden nur eine bestimmte Zeit, sehen nur einen Ausschnitt aus dem Verhaltensrepertoire eines Menschen. Und der zeigt sich jeweils von verschiedenen Seiten: seiner Mutter gegenüber anders als seinem Freund, und seinem Chef präsentiert er sich noch mal anders. Unsere sozialen Rollen verlangen so viel Anpassung, um im Alltag zu bestehen.
Das Dilemma zwischen Verhalten und Erwartungen kennen Sie aus dem Büro: Wer irgendwo neu ist, wird manchmal als distanziert erlebt, dabei hält er sich nur zurück; wer an seinen Kollegen schnell vorbeihuscht, hat kein echtes Interesse. Könnte man denken.
Aber vielleicht ist er nur gestresst und bräuchte Hilfe. Doch die lässt auf sich warten. Denn sogar enge Freunde bekommen nur mit, was wir von uns zeigen. Bleibt das gewünschte Feedback aus, lohnt sich die Frage: Hatten die anderen überhaupt die Chance zu reagieren?
Ehrlich zu sich selbst sein
Ehrlich zu sich selbst sein
Ob uns jemand sympathisch oder vertrauenswürdig erscheint, entscheidet ein uraltes Programm unserer Gene. Es teilt ein nach Freund oder Feind – blitzschnell. Wie funktioniert das? „Der erste Eindruck basiert auf nur wenigen Informationen. Wichtig ist ein zentrales Merkmal, wie beispielsweise eine klare Stimme“, erklärt Prof. Dr. Hans- Werner Bierhoff von der Ruhr-Universität Bochum, einer der weltweit führenden Sozialpsychologen. „Sie dient als ‚Ankerreiz‘: ein Knoten im Netzwerk, mit dem unser Gehirn Persönlichkeitseigenschaften abbildet.“ Wird in einer Kette von Merkmalen ein positiver Charakterzug aktiviert, treten weitere ans Licht. Das erste Urteil über unser Gegenüber steht – und das geben wir nicht so schnell wieder auf.
Fällt es gut aus (Was für ein netter Typ!), interpretieren wir weitere Informationen wohlwollend. Entsprechend verhalten wir uns auch: suchen z.B. unbewusst Nähe, lächeln mehr – und freuen uns über die positiven Reaktionen. Dabei haben wir die selbst ausgelöst. Natürlich unbewusst.
Botschaften, die nicht ganz in unser Bild passen, gleicht unser Gehirn an. (Er ist ein bisschen zu redselig. Wir nennen es kommunikativ.) Erst wenn’s dicke kommt (wir erfahren, wie er hinter unserem Rücken von uns spricht), verabschieden wir uns vom ersten Eindruck. „Kontrastbildung“ nennen das Sozialwissenschaftler. „Klare negative Gegeninformationen verändern unser Bild. Der Mensch ist nicht hemmungslos irrational. Er baut neue Informationen ein“, bestätigt Prof. Bierhoff. Seine Empfehlung: „Weniger gedächtnisgestützt urteilen, bewusst neue konkrete Daten sammeln und Beobachtungen anderer einbeziehen.“
Den Fokus verändern und einfühlen statt verurteilen
Den Fokus verändern
So wie der erste Eindruck unsere Wahrnehmung lenkt, können das auch Informationen von außen. Nehmen wir an, der neuen Kollegin eilt der Ruf voraus, sie flirte gern, besonders mit dem Chef. Hören wir das zwei-, dreimal, stehen die Antennen auf Empfang – für jedes Signal, das sich irgendwie in diese Richtung interpretieren lässt. Und was mag erst in den Köpfen der männlichen Kollegen vorgehen? Alles Spekulation. Fest steht aber: Die Erwartung bestimmt unsere weitere Wahrnehmung ebenso wie unser Verhalten.
Was für eine Chance! Wir können selbst entscheiden, in welche Richtung wir schauen wollen. Zum Beispiel auf die positiven Seiten eines Kollegen, den wir nicht mögen. Probieren Sie es aus: Konzentrieren Sie sich eine Woche lang auf gute Beiträge (Vorsicht, nicht gleich uminterpretieren!), nette Gesten, die passende Krawatte, kreative Ideen ... Was immer Ihnen einfällt. Vielleicht überlegen Sie sich vorher ein paar Kriterien? Sie werden erstaunt sein!
Einfühlen statt verurteilen
Stellen Sie sich vor, Freunde laden Sie zum Abendessen ein. Nach und nach lockert sich die Stimmung, es wird viel gelacht. Nur einer sitzt etwas abseits in der Ecke. „Ablehnender Blick, gelangweiltes Getue, spricht mit keinem – was will der denn hier?“, fragen Sie sich und beschließen: „Der ist ziemlich introvertiert oder arrogant, egal, jedenfalls ein Langweiler.“ Nicht ahnend, dass der kurz vor dem Essen seine Freundin am Arm eines anderen Mannes gesehen hat.
„Er ist so oder so“: Wenn wir urteilen, halten wir uns oft an die Person, statt deren Situation und die Hintergründe zu erfragen und mit einzubeziehen. Sozialpsychologen bezeichnen diese vorschnelle Zuschreibung als „fundamentalen Attributionsfehler“. Spontan suchen wir die Ursache für ein Verhalten im Menschen selbst. Das spart Zeit und Energie, erweist sich aber oft als ungerecht. Um den anderen wirklich zu verstehen und richtig einzuschätzen, müssen wir in seine Schuhe schlüpfen. Wie eine indianische Weisheit sagt: „Urteile nie über einen anderen Menschen, bevor du nicht 24 Stunden in seinen Mokassins gegangen bist.“