
Zuerst war es nur ein diffuses Gefühl, das sich am besten mit dem Wort „schwabbelig“ beschreiben lässt. Irgendwas an mir war aus dem Leim gegangen. Aber was? Bauch, Beine und Po waren okay. Sagen wir mal: altersgemäß. Dann hörte ich im Autoradio ein Lied, das mir bekannt vorkam. Zwei Tage später stellte ich fest: Es war der Titelsong einer CD, die ich erst kürzlich gekauft hatte. Da wusste ich Bescheid. Zum einen Ohr rein, zum anderen raus und keine Speicherkapazität mehr dazwischen: Die Schwabbeligkeit saß in meinem Gehirn. Ein Übergewicht im Kopf, ausgelöst durch Fast-Food-Häppchen aus Musik, Film und Literatur. Blöd: Einen Speckbauch kann man noch einziehen, ein speckiges Hirn nicht. Da hilft nicht mal Shapewear.
Tröstlich, dass es nicht nur mir so geht. Hunderte von Büchern auf einem Lesegerät, Datenbanken, von denen wir die größten Hits der 80er, 90er, 2000er und das Beste von heute abrufen können, DVD on demand – alles jederzeit verfügbar. Im Zeitalter der Smartphones wird ohnehin die ganze Welt zum Freizeitpark: vom Schaufenster bis zum Nachrichtenmagazin, überall kleine Fliegenschisskästchen zum Abscannen, für noch mehr Info, noch mehr Spaß.
Nein, früher war nicht alles besser: Damals wie heute gab und gibt es gute und schlechte Musik, Filme und Geschichten. Nur: Als menschliche Durchlauferhitzer nehmen wir beides kaum noch wahr, weder die Perlen noch die Säue. Stattdessen haben wir ständig den Eindruck: Kenn ich schon, hab ich so ähnlich schon mal gehört, äh, Sekunde: Hab ich das nicht irgendwo im Regal?
Als Teenager konnte ich Filme monatelang nacherzählen, bis zur Haarfarbe der Nebenfiguren. Heute ist die Haarfarbe der Hauptfigur häufig das Einzige, das bis zum nächsten Tag hängen bleibt. Und meine Familie? Tja. Meine Kindchen haben zwar noch keinen Kindle, aber dafür sitzen sie entscheidungsschwach zwischen Playmo-Prinzessinnenkoffer, Echtholzparkgarage und Retro-Murmelbahn. Doch geistige Schwabbeligkeit ist kein Schicksal. Wir können was dagegen tun: eine ausgewogene Entertainment-Diät. Die geht so: Man nehme sich selbst (und gegebenenfalls Partner und Kinder), packe pro Person maximal ein Spielzeug, eine CD oder ein Buch ein und fahre irgendwohin, wo es auch sonst nichts gibt. Dann tue man: nichts.
Wir sind in unser TV-freies Mini-Ferienhaus im Wendland gefahren und haben uns gelangweilt. Etwa eine halbe Stunde lang. Dann sind Helen und Henri einen halben Tag lang abwechselnd in eine kaputte Pappkiste gekrochen. Der andere musste die Kiste aufmachen und laut „Hä?“ schreien. So viel Spaß hatten sie noch nie. Jedenfalls nicht mit der Echtholzparkgarage. Ich habe ein und dieselbe CD immer wieder gehört und hätte schließlich gerne eine Songzeile in den Tisch geritzt, so wie früher in der Schule. Wer jemals eine Heilfastenkur gemacht hat, kennt das: Am ersten Tag hat man Hunger. Aber dann schmeckt alles viel intensiver. Das schwabbelige Gefühl im Kopf war jedenfalls nach zwei Tagen weg. Dafür begegnete ich einem Wesen, das ich lange nicht mehr getroffen hatte: einem Ohrwurm. Ich begrüsste ihn freudig. Eine Playlist mit Lieblingstiteln im eigenen Kopf – wer so etwas hat, braucht keinen iPod. Und Kapazitäten obenrum, die habe ich ja jetzt wieder frei.