
Kennen Sie die Reziprozitätsregel? Nein? Aber sicher das Gefühl, bei jemandem in der Schuld zu stehen. Weil er Ihnen einen Gefallen getan hat. Obwohl Sie vielleicht nicht einmal darum gebeten hatten, fühlen Sie sich doch ein bisschen zur Gegenleistung verpflichtet. Warum auch nicht? Schwierig wird es allerdings, wenn wir an Leute geraten, die aus unseren Verbundenheitsgefühlen Profit schlagen wollen.
Subtile Manipulation
Neulich im Supermarkt z. B. wollte ich mir einfach mal wieder etwas gönnen. Eine Kleinigkeit, um das Wochenende einzuläuten. Es war genau der richtige Moment für einen Schluck Wein von der Probiertheke. Im Angebot: ein trockener Riesling – natürlich gratis. Die junge Frau hinter dem Tresen führte mich so freundlich in die Weinkunde ein, dass ich mich auf der Stelle entspannte. Der herbe Tropfen tat sein Übriges. Und obwohl er mir nicht besonders schmeckte, landete eine Flasche in meinem Einkaufskorb: eine ziemlich teure Gratisprobe. Was war passiert? Die junge Dame bot mir eine Gefälligkeit „im Voraus“ an. Und schon fühlte ich mich ihr gegenüber verpflichtet. Denn schließlich gehört es sich nicht, nur zu nehmen.
Kultur des Schenkens
Man muss auch bereit sein, etwas zu geben. So besagt es die Reziprozitätsregel, mit der wir alle sozialisiert werden. Der Gedanke dahinter: Eine Gesellschaft profitiert vom Austausch, nicht von einseitiger Bereicherung. Wer nur die Hand aufhält – ohne jede Gegenleistung –, gilt schnell als Egoist, Geizhals oder Schnorrer. Bleibt die Frage: Wie hätte ich mich entziehen können? Sollte ich die Reziprozitätsregel schlichtweg ignorieren? Dann hätte ich garantiert ein schlechtes Gewissen. Oder sollte ich künftig grundsätzlich einen großen Bogen um diese Art Angebote machen? Beim nächsten Mal genieße ich wieder einen Schluck, doch anstatt die „Gratisprobe“ teuer zu erkaufen, sage ich freundlich: „Dankeschön!“, wünsche einen sonnigen Tag und freue mich über meine neu gewonnene Freiheit. Die Regel breche ich so nicht: Wie und in welchem Umfang ich mich revanchieren sollte, schreibt das Reziprozitätsprinzip nämlich nicht vor.
Interview mit Dr. Stegbauer


Und für dieses Gefühl lege ich an einem Supermarktstand 20, 30 Euro hin, obwohl mir der Wein nicht mal wirklich schmeckt? Ja, wenn die Regel für kommerzielle Zwecke ausgenutzt wird, kann es richtig teuer werden. Im Englischen heißt Geschenk „Gift“ – ein Wort, das es bei uns im Mittelhochdeutschen noch gab. Heute kennen wir nur noch den Begriff „Mitgift“: ein Geschenk, das eine Bindung forciert. Und genau darum geht es auch im kommerziellen Bereich. Der Verkäufer „schenkt“ etwas – neben der Gratisprobe vielleicht noch ein paar Informationen zum Produkt, da zu ein nettes Lächeln – nur aus einem Grund: Die Bindung zwischen ihm und dem Kunden soll gestärkt werden. Aus dieser Abhängigkeit heraus kaufen wir.
Hauptsache, das Ganze fühlt sich ausgewogen an? Ja, dieser emotionale Aspekt ist wichtig. In jeder Beziehung, nicht nur in der zwischen Käufer und Verkäufer. Nehmen wir das Beispiel Wohngemeinschaft: Wer räumt hier auf, macht den Abwasch, putzt das Klo? Entscheidend ist, dass die Beteiligten eine gerechte Aufgabenverteilung wahrnehmen. Genau wie in der Partnerschaft oder im Beruf.
Apropos Job: Nehmen wir mal an, eine Kollegin überreicht mir spontan Material zu einem Workshop, den sie kürzlich besucht hat. Es ist nicht wirklich mein Thema, und ich habe eher die Vermutung, dass sie sich mit dieser Geste Unterstützung für ihr nächstes Projekt erhofft. Wie verhalte ich mich? Die Unterlagen zurückzuweisen würde die Beziehung gefährden. Relativieren Sie aber den Wert, den dieses „Geschenk“ für Sie hat. Etwa nach dem Motto: „Danke, dass du an mich gedacht hast, aber es ist im Moment nicht mein Thema.“ Wann gilt denn allgemein eine Gegenleistung als angemessen? Das hängt von der Erwartung des anderen ab. Wichtig beim sozialen Austausch ist: Die Gegenleistung richtet sich weniger danach, was man bekommen hat, sondern vor allem nach der Beziehung zwischen den Beteiligten.
„Was verbindet uns eigentlich?“ - Das Fazit
Wie Sie sich revanchieren, ist letztlich immer Ihre Entscheidung. Manchmal reicht schon ein aufrichtiges „Dankeschön“.
Fazit:
Kommt das Gefühl auf, jemandem etwas Gutes tun zu müssen, lohnt sich die Frage „Was verbindet uns eigentlich?“ Eine eher geschäftliche Beziehung? Dann sollten wir genau kalkulieren, was wir zurückgeben. Oder ist es die Macht der Gewohnheit? Vielleicht spielen wir schon seit Jahren ein Gefälligkeits-Pingpong, und aus Höflichkeit traut sich keiner, damit aufzuhören?
Oder im Urlaub: Statt die kostbare Zeit zu genießen, versenden wir dutzende Karten und SMS – nicht nur an liebe Freunde und Verwandte, nein, an alle, die uns auch bedacht haben. Das macht schon lange keinen Spaß mehr, aber gehört sich so – meinen wir.
Oder zu Weihnachten: Da wird traditionell nun mal geschenkt. Aber was? Hier könnte ein „Antischenkungspakt“ helfen. Eine klare Vereinbarung. Allerdings sollte die Abmachung jedem bewusst sein. Denn auch die winzigste nett verpackte Kleinigkeit kann den Abend verderben, wenn alle anderen ohne erscheinen. Ist es da nicht höchste Zeit, auszusteigen? Dann würden wir Zeit gewinnen für die Menschen, die uns wirklich nah stehen.