Medical Gaslighting: Wenn Patienten nicht ernst genommen werden

Zum Arzt geht kaum einer gerne. Noch schlimmer, wenn man nicht ernst genommen wird. Dieses Phänomen hat einen Namen: "Medical Gaslighting". Vor allem übergewichtige Frauen sind davon betroffen. In diesem Artikel beleuchten wir, was Medical Gaslighting genau ist – und wie Patienten damit umgehen können. Dafür haben wir uns den Rat eines Arztes eingeholt. 

Seinem Arzt oder seiner Ärztin sollte man vertrauen – eigentlich. Doch was passiert, wenn Patienten das Gefühl haben, dass ihre Symptome nicht ernst genommen werden?

Was ist Medical Gaslighting?

"Medical Gaslighting" bezieht sich auf eine Form des Gaslightings im medizinischen Kontext. Gaslighting ist eine manipulative Taktik, bei der eine Person absichtlich falsche Informationen bereitstellt, Zweifel sät oder die Realität verzerrt, um das Opfer zu verwirren oder zu manipulieren. 

Im medizinischen Kontext bedeutet dies, dass Patienten von medizinischem Fachpersonal nicht ernst genommen oder ihre Symptome und Sorgen bagatellisiert, abgewertet oder nicht ernst genommen werden. Dies kann zu einer verzögerten Diagnose, einer unzureichenden Behandlung und ernsthaften Auswirkungen auf die Gesundheit führen. 

"Die Folgen davon können eine fehlende angemessene medizinische Versorgung und ein verheerender Vertrauensverlust in das Gesundheitssystem sein. Gerade Frauen, übergewichtige Menschen und People of Color sind davon besonders häufig betroffen - liegt mehr als einer dieser Faktoren vor, vervielfacht sich auch das Risiko, früher oder später von ‚Medical Gaslighting‘ betroffen zu sein“, erklärt Dr. Ramy Bishay.

Gerade Frauen, übergewichtige Menschen und People of Color sind davon besonders häufig betroffen.

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Unser Experte
Dr. Ramy Bishay

Dr. Ramy Bishay, Facharzt für Endokrinologie und medizinischer Berater beim australischen Gewichtsmanagement-Programm Juniper.

Beispiele: So kann Medical Gaslighting aussehen

  • Bagatellisierung von Symptomen: Ein Patient berichtet über Schmerzen, Müdigkeit oder andere Symptome. Der Arzt tut diese als nicht wichtig ab.
  • Verweigerung von Tests: Anfragen nach spezifischen Tests oder Untersuchungen werden ohne ausreichende Begründung abgelehnt.
  • Psychologisierung von Beschwerden: Physische Beschwerden werden auf psychische Ursachen zurückgeführt, ohne angemessen nach physischen Gründen zu suchen.
  • Mangelnde Untersuchung: Das medizinische Personal vernachlässigt gründliche körperliche Untersuchungen, die für eine genaue Diagnose erforderlich sind.
  • Passive Gewichtsvorurteile: "Dieses zeigt sich, wenn Ärztinnen oder Ärzte und Krankenpfleger:innen die gesundheitlichen Bedenken ihrer übergewichtigen oder adipösen Patientinnen nicht ernst nehmen oder sie allein auf das Gewicht schieben. Anstatt sich also intensiv mit den genannten Symptomen zu beschäftigen und andere medizinische Ursachen auszuschließen, empfehlen Ärztinnen und Ärzte Patientinnen häufig, abzunehmen", so der Facharzt.

Dr. Ramy Bishay ergänzt weiterhin:

Adipöse Patientinnen berichten auch davon, unhöfliche Bemerkungen und unpassende Witze zu hören bekommen oder von Ärztinnen oder Ärzten ungefragte, zugleich wenig qualifizierte Ratschläge zur Gewichtsabnahme erhalten zu haben. Das ist eine sehr direkte Form des „Medical Gaslightings“. Auch eine eigene, repräsentative YouGov-Umfrage unsererseits hat kürzlich bestätigt, wie häufig sich dies auch in Behandlungszimmern in Deutschland ereignet.

Was tun? So können Patienten reagieren

1. Selbstadvokatie: Klar kommunizieren und auf angemessene Untersuchungen bestehen

  • Klare Kommunikation: Drücken Sie sich klar und präzise aus. Beschreiben Sie Ihre Symptome, deren Häufigkeit und mögliche Auswirkungen auf Ihre Lebensqualität. Je detaillierter Sie sind, desto besser kann das medizinische Personal Ihre Situation verstehen.
  • Fragen stellen: Zögern Sie nicht, Fragen zu stellen. Verlangen Sie nach Erklärungen für vorgeschlagene Behandlungen oder warum bestimmte Tests durchgeführt werden sollen. Ein offener Dialog kann dazu beitragen, Unklarheiten zu beseitigen.
  • Informieren Sie sich: Eignen Sie sich Grundkenntnisse über Ihre Symptome und mögliche Ursachen an. Dies ermöglicht es Ihnen, aktiv am Gespräch teilzunehmen und Ihre Bedenken fundiert zu äußern.

2. Zweitmeinung einholen: Überprüfen Sie Ihre Diagnose und Behandlungsoptionen

  • Wählen Sie einen anderen Arzt: Suchen Sie einen Arzt auf, der auf das betreffende medizinische Fachgebiet spezialisiert ist. Dies kann dazu beitragen, unterschiedliche Perspektiven und Ansätze zu erhalten.
  • Teilen Sie Ihre Geschichte: Sorgen Sie dafür, dass der neue Arzt alle relevanten Informationen über Ihre Symptome, vorherigen Untersuchungen und die bisherige medizinische Geschichte kennt. 
  • Fragen Sie nach Alternativen: Bitten Sie um Informationen zu verschiedenen Diagnosemöglichkeiten und Behandlungsoptionen.

3. Dokumentation: Halten Sie einen klaren Überblick über Ihre Gesundheitsreise

  • Tagebuch führen: Notieren Sie regelmäßig Ihre Symptome, ihre Intensität und mögliche Auslöser. Dies kann dazu beitragen, Muster zu erkennen, die bei der Diagnose hilfreich sein können.
  • Arztbesuche festhalten: Notieren Sie wichtige Informationen von Arztbesuchen, einschließlich vorgeschlagener Tests, Diagnosen und empfohlener Behandlungen.
  • Reaktionen dokumentieren: Falls Sie auf bestimmte Behandlungen oder Medikamente reagieren, halten Sie diese Reaktionen fest. Dies kann für künftige medizinische Entscheidungen von Bedeutung sein.

Medical Gsslighting bei übergewichtigen Frauen – Interview mit Dr. Ramy Bishay

Vital.de: Inwiefern sehen Sie eine Verbindung zwischen Medical Gaslighting und der Gesundheitsversorgung von Frauen mit Übergewicht? 

„Medical Gaslighting“ und die Gesundheitsversorgung von Frauen allgemein, speziell aber von Frauen mit Übergewicht sind eng miteinander verbunden. Häufig wird "Medical Gaslighting" direkt verstärkt durch den "Gender Health Gap", also ein geschlechtsspezifisches Gesundheitsgefälle, das historische Wurzeln hat. Bis in die 90er-Jahre konzentrierten sich klinische Studien und medizinische Forschung hauptsächlich auf männliche Probanden, sodass viele Medikamente und Behandlungen nicht speziell auf den weiblichen Körper oder die Bedürfnisse von Frauen abgestimmt waren und dadurch zu einer ungleichen Behandlung von Frauen in der Gesundheitsversorgung führten. 

Auch wenn es seit 1994 dank neuer Richtlinien mehr weibliche Studienteilnehmerinnen in der Medizin gibt, sind die Auswirkungen dieser jahrzehntelangen Vernachlässigung immer noch spürbar und das Geschlechterverhältnis in klinischen Studien und medizinischer Forschung weiterhin oft unausgeglichen. Dies hat zur Folge, dass der weibliche Körper in der medizinischen Praxis oft als "kompliziert" angesehen wird, was die Grundlage für das sogenannte "Medical Gaslighting" schafft. 

Häufig wird “Medical Gaslighting” direkt verstärkt durch den “Gender Health Gap”, also ein geschlechtsspezifisches Gesundheitsgefälle, das historische Wurzeln hat.

Vital.de: Gibt es spezifische Herausforderungen oder stereotype Denkmuster, die bei der Diagnose und Behandlung auftreten können?

Bei Frauen mit Übergewicht und Adipositas kann der sogenannte "Weight Bias" (Gewichtsvorurteil) oder "Weight Stigma" (Gewichtsstigma) hinzukommen. Weight Bias liegt vor, wenn Menschen bestimmte Vorstellungen darüber haben, was Menschen mit Adipositas denken, wie sie sich verhalten und wie sie leben. Ein Gewichtsstigma ist dann gegeben, wenn die Voreingenommenheit voll ausgeprägt ist und zu einer Diskriminierung führt, die sich gegen Menschen mit Fettleibigkeit richtet. 

Auch medizinisches Personal ist, wie geschildert, von diesen stereotypischen und verurteilenden Denkmustern nicht immer befreit. Manche Ärztinnen und Ärzte betrachten Fettleibigkeit oder Übergewicht immer noch als ‚Lifestyle-Problem' und nicht als physiologisch bedingten Zustand.

Vital.de: Welche Auswirkungen kann Medical Gaslighting auf das mentale Wohlbefinden von Frauen mit Übergewicht haben? Wie kann dieser Effekt ihre Bereitschaft beeinflussen, medizinische Hilfe in Anspruch zu nehmen?

„Medical Gaslighting“ kann langfristig schädliche Auswirkungen auf die Gesundheit der Betroffenen haben, wie ein geringes Selbstwertgefühl, Depressionen und andere psychische Störungen -  aber auch ganz direkt das Übersehen von anderen (ernsten) Krankheiten. 

Laut der bereits angesprochenen YouGov-Umfrage im Auftrag von Juniper fühlen sich 69 Prozent der Frauen mit Adipositas aufgrund ihres Gewichts verurteilt. Mehr als die Hälfte der Befragten haben Hemmungen, mit ihrem Arzt oder ihrer Ärztin über Therapiemöglichkeiten für eine Gewichtsabnahme zu sprechen. Und 25 % hält die Angst vor Fehldiagnosen und Verurteilungen sogar davon ab, sich nicht nur wegen ihres Gewichts, sondern auch wegen aller anderen Probleme in ärztliche Behandlung zu begeben. In diesem stigmatisierenden Umfeld fühlen sich Frauen mit Adipositas oft entmutigt. Dies kann dazu führen, dass sie ihre eigenen Gesundheitsbedenken vernachlässigen und medizinische Versorgung meiden.

25% der Befragten hält die Angst vor Fehldiagnosen und Verurteilungen sogar davon ab, sich nicht nur wegen ihres Gewichts, sondern auch wegen aller anderen Probleme in ärztliche Behandlung zu begeben.

Vital.de: Welche Empfehlungen haben Sie für Frauen mit Übergewicht, um Medical Gaslighting zu erkennen? 

Die Meisten spüren sehr schnell, wenn sie von „Medical Gaslighting“ betroffen sind. Um sicherzugehen, gibt es einige Warnsignale, auf die geachtet werden kann. Sollte das Gefühl entstehen, dass der Arzt oder die Ärztin das gesundheitliche Anliegen nicht ernst nimmt und Gesundheitsprobleme und Beschwerden lediglich auf das Gewicht der Patientinnen reduziert und keine weiteren Untersuchungen durchführt, könnte dies auf „Medical Gaslighting“ hinweisen. 

Ärzte und Ärztinnen sollten außerdem keine Vorurteile gegenüber Patient:innen mit Adipositas haben oder ihnen die Schuld für ihre Gesundheitsprobleme zuschreiben. Wer solche Aussagen hört, kann dies als Hinweis auf „Medical Gaslighting“ verstehen, genauso wie ein Mangel an Empathie, Verständnis und Unterstützung seitens der Ärztinnen oder des Arztes.

Vital.de: Wie kann man sich davor schützen?

Am besten schützt man sich davor, indem man informiert und mit Fragen in die Sprechstunde kommt und sich nicht von medizinischem Fachpersonal abschütteln lässt. Wer konkrete Fragen vorbereitet, kann im Nachhinein außerdem bessere Entscheidungen treffen. Im Zweifelsfall kann jederzeit nach zusätzlichen Tests und Behandlungsoptionen gebeten werden, um sicherzustellen, dass die Bedenken ernst genommen werden.

Auch eine Dokumentation der Symptome und des Gesundheitsverlaufs können hilfreich sein. Diese Aufzeichnungen können bei der Kommunikation mit Ärzten und Ärztinnen helfen und dazu beitragen, das Anliegen besser zu vermitteln. Wer das Gefühl hat, nicht die angemessene medizinische Betreuung zu erhalten, sollte nicht zögern, eine zweite Meinung von einem anderen Arzt oder einer anderen Ärztin einzuholen. 

Im Zweifelsfall kann jederzeit nach zusätzlichen Tests und Behandlungsoptionen gebeten werden, um sicherzustellen, dass die Bedenken ernst genommen werden.

Vital.de: Und wie können medizinische Fachleute sensibilisiert werden, um eine bessere, vorurteilsfreie Versorgung zu gewährleisten?

Medizinischen Fachleuten empfehle ich, die aktuelle wissenschaftliche Fachliteratur zu verfolgen. Inzwischen sind die biologischen Zusammenhänge gut erforscht, die Adipositas verursachen. Empirisch ist auch belegt, dass ohne zusätzliche medikamentöse Therapie die Erfolgsquote erschreckend niedrig ist. Zugleich ist Adipositas nicht nur eine ernst zu nehmende Krankheit – ein Schwerpunkt meiner eigenen Forschungen sind mögliche Folgeerkrankungen. Wir verfügen inzwischen über ausreichend Evidenz über erfolgreiche therapeutische Möglichkeiten. Meine Hoffnung ist, dass diese Erkenntnisse schnell in den Alltag der Arztpraxen vordringen und die jahrzehntelange Stigmatisierung übergewichtiger Menschen, insbesondere auch übergewichtiger Frauen, ein Ende findet und ihnen stattdessen tatsächlich geholfen wird.

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