Zeit zum Träumen

Zeit zum Träumen

Wir sollten wieder mehr träumen, fordert der Psychologe Stephan Grünewald im Gespräch mit vital.

Frau träumt© Thinkstock
Frau träumt
Ein Wettstreit dominiert unsere Beziehungen: Mit den Liebsten, mit Freunden, Kollegen, wir in unserer Gesellschaft konkurrieren darum, wer sich am meisten verausgabt. Wir stürzen uns in Betriebsamkeit, um die innere Unruhe nicht zu spüren, die schnelllebige Zeiten in uns auslösen. Diese Diagnose stellt Diplom-Psychologe Stephan Grünewald. Und er weiß die Lösung: Besinnen Sie sich auf Ihre Träume, dann können Sie sich aus dem Hamsterrad befreien.
vital: Herr Grünewald, psychologisch betrachtet, wo stehen wir Deutschen gerade?
Stephan Grünewald: Ich glaube, wir stehen vor einer Weichenstellung. Wollen wir in Zukun das Land der Arbeitssüchtigen und Bürokraten sein oder das der Dichter, Träumer und Querdenker? Wir merken: Etwas wird sich ändern, wissen aber nicht, was.
Stephan Grünewald, 53, stammt aus Mönchenglad- bach. Nach dem Zivildienst studierte er Psychologie in Köln und gründete 1987 mit dem Psychologen Jens Lönneker das Marktfor- schungsinstitut Grünewald & Lönneker, das 1997 umbenannt wurde in rheingold-Institut (Infos: www.rhein gold-online.de). Die 50 festen und 140 freien Mitarbeiter haben sich auf tiefenpsychologische Kultur-, Markt- und Medienforschung spezialisiert und führen für diverse Auftraggeber pro Jahr etwa 5000 Interviews durch. Aus den umfangreichen Antworten hat Stephan Grünewald bereits zweimal einen aufrüttelnden Seelenlagebericht der Deutschen zusammengestellt: 2006 in „Deutschland auf der Couch“ (Campus, 234 Seiten, 19,90 Euro) und 2013 in „Die erschöpfte Gesell- schaft“ (Campus, 187 Seiten, 19,99 Euro)
Hat das Hamsterrad bald ausgedient?
Das Hamsterrad ist beliebt, weil es Erwartungssicherheit herstellt. Da passiert nichts Unvorhersehbares. Und anstelle von Werk- stolz fühlen wir Erschöpfungsstolz. Wir sind nicht mehr stolz auf das, was wir herstellen, sondern auf unseren Grad der Erschöpfung. Wenn ich abends nur noch ermaet durch die TV-Kanäle zappen kann, muss es ein ergiebiger Arbeitstag gewesen sein.
Wie wirkt sich das auf Beziehungen aus?
Dann entsteht Erschöpfungskonkurrenz. Kollegen stacheln sich an, indem sie mit Überstunden und bezwungenen Mail-Bergen prahlen. Kommt dann der Ehemann spät heim, will er sein schlechtes Gewissen mildern, indem er ausmalt, wie hart es im Büro war. Seine Frau will aber auch zeigen, dass sie abends das Recht auf eine Auszeit hat. Also muss sie einen draufsetzen und betont, wie anstrengend es mit den Kindern oder im Halbtagsjob war – Erschöpfungskonkurrenz. Gerade Frauen stehen unter Perfektionsdruck. Sie sollen liebevolle Mutter, erfolgreich im Job, bis ins Alter araktiv und beste Freundin sein, sich selbst verwirklichen und bei all dem gelassen bleiben.
Können nächtliche Träume diesen Erschöpfungswestreit wirklich beenden?
Ja. Träume sind Weckrufe. Sie rücken unseren inneren Kompass wieder ins Blickfeld. Was will ich vom Leben? Was ist wichtig? Wohin will ich mich entwickeln? Für solche Fragen bleibt tagsüber, in besinnungsloser Betriebsamkeit, keine Zeit. Statt morgens aus dem Bett zu springen, um per Handy die Mails und Facebook zu checken, sollten wir noch eine Viertelstunde liegen bleiben und unseren Träumen nachspüren. Gönnen Sie sich diesen Schwebezustand, duschen Sie lange, frühstücken Sie in Ruhe und kauen Sie mit dem Partner nicht nur das Toastbrot, sondern auch Ihre Traumreste durch.
Sie meinen, Paare sollten über ihre nächtlichen Träume sprechen?
Ja. Manchmal hat der andere auch eine Idee, was mein Traum bedeutet. In solchen Gesprächen können sich gemeinsame Träume entwickeln. Anfangs träumen Paare von der ersten gemeinsamen Wohnung, von Kindern, einem Häuschen. Problematisch wird es, wenn solche Traumprojekte ausbleiben. Für Paare ist es wichtig, den Austausch zu pflegen. Natürlich können gemeinsame Träume gelingen oder scheitern. Aber sie erzeugen immer innere Verbundenheit.
Haben Sie das selbst schon erlebt?
Ja. In einem Streit warf mir meine Frau vor, Vorträge über das Hamsterrad zu halten, aber selbst darin mitzulaufen. In der folgenden Nacht träumte ich, dass ich mit meiner Frau auf eine Party gehe, wo sie heig mit einem Franzosen flirtet. Der trägt ein T-Shirt, das mir gehört, aber seit Jahren im Schrank liegt. Als die beiden sich küssen wollten, wachte ich schweißgebadet auf. Beim Nachdenken begriff ich: Es ging nicht um eine mögliche Affäre. Der Traum wollte mir sagen, dass ich eine abgelegte französische Seite in mir reaktivieren sollte: Weck den Franzosen in dir, schaff Freiräume für deine Beziehung und deine Familie.
Hat es geklappt?
Ich denke, ja. Seit einiger Zeit steht auch eine Tischtennisplae bei uns im Wohnzimmer.
Führen Sie ein Traumtagebuch?
Nein, das würde ich auch nicht empfehlen. Träume akribisch aufzuschreiben, erhöht nur den Perfektionsdruck. Wir sollten uns einfach mehr Zeit für unsere Träume nehmen. Träume greifen auf, was am Tag untergegangen oder liegen geblieben ist.
Aber das kann mir auch Angst einjagen. Stichwort Albträume.
Träume sind unbequem, weil sie unliebsame Wahrheiten zeigen. Weil sie uns auffordern, genauer hinzuschauen und unser Leben an einigen Stellen zu ändern. Sie sind fruchtbar und furchtbar zugleich. Etwa der Traum, durchs Abitur zu fallenden haben interessanterweise nur Menschen mit bestandenem Abitur. Das heißt: Der Traum holt Ängste zurück, die wir bereits bewältigt haben, um uns für eine angstbesetzte Situation, die uns bevorsteht, Mut zu machen. Der Traum sagt uns: Beim Abitur ist es gut gegangen. Warum soll es jetzt nicht auch gut gehen?
Bislang haben wir über nächtliche Träume gesprochen. Wie verhält es sich mit Tag- oder mit Lebensträumen?
Tagträume haben eine wichtige tröstende Funktion. Wenn mich der Chef kritisiert, kann ich das umdichten und Mitarbeiter des Monats werden. Erwidert jemand meine Avancen nicht, kann ich im Tagtraum der tolle Verführer sein. Ich sehe allerdings die Gefahr, dass wir Tagträume ans Internet abgeben: Wird’s uns zu eng, gucken wir uns auf Youtube Filmchen an, die uns aueitern. Es ist aber wichtig, selbst zu träumen, statt fremde Träume herunterzuladen.
Gilt das ebenso für Lebensträume?
Unbedingt. Auch da sollte ich regelmäßig prüfen, ob ich nur einem modischen Perfektionsideal hinterherlaufe. Folge ich einem Lebenstraum, komme ich auch mal in eine Krise, weil es nicht weitergeht. Aber: Ich habe eine Richtung, mein Leben hat Dramatik. Moderne Paradiesträume, so nenne ich sie, wollen genau das nicht. Sie wollen auf Knopfdruck von Höhepunkt zu Höhepunkt springen. Ein Leben wie eine CD – ohne Abnutzung, Alter, ohne Langeweile. Doch solche Träume sind ein Perfektionsgefängnis, das zu noch mehr Erschöpfung führt.
Angenommen, wir folgen Ihren Ratschlägen – könnte das unsere Gesellschaft verändern?
Momentan wollen wir Deutschen eher sein wie die Chinesen, rund um die Uhr emsig. Halten wir jedoch inne, entsteht Schöpferkraft, das Gegenteil von Erschöpfung. Träumen wir, bilden wir neue Ideen. Das ist die Voraussetzung, um das Land der Dichter und Querdenker zu bleiben. Erfindungen jeder Art sind nur möglich, wenn wir unsere Gedanken wieder schweifen lassen.
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