
Die späten Eltern
Claudia Rohbrecht, 43, und Ehemann Frank, 45, mit ihrer Tochter Berit, 2
Claudia: „Fünf bis sechs Kinder habe ich mir früher gewünscht, weil ich den Zusammenhalt und die Verbundenheit unter Geschwistern so toll finde. Ich dachte, Familie kann gar nicht groß genug sein. Als ich meinen Mann kennenlernte, war ich aber schon 32. Und man fängt ja nicht sofort mit der Familienplanung an. Als wir dann wollten, klappte es nicht. Ich hatte fünf Fehlgeburten. Ich finde es erstaunlich, wie man das verkraftet. Wir haben uns dann über In-vitro-Fertilisation informiert, aber das Mechanische daran hat uns abgeschreckt. Für eine Adoption waren wir mit Ende 30 zu alt.
Obwohl wir uns so sehr Kinder wünschten, sind wir trotz der Enttäuschungen entspannt geblieben. „Wenn es nicht klappt, sind wir auch zu zweit eine Familie“, hat mein Mann gesagt, „nur eben eine kleine.“ Das hat mich beruhigt. Als ich mit 41 zum sechsten Mal schwanger wurde und dieses Mal alles gut lief, waren wir sehr überrascht. Jetzt ist Berit da, und ich genieße die Elternzeit. Meinen Job vermisse ich überhaupt nicht.
Für unsere Beziehung war die späte Familiengründung auch eine Herausforderung. Wenn man nach 20 Jahren Berufstätigkeit plötzlich Mutter und Hausfrau ist, muss man wieder neu um Gleichberechtigung kämpfen. Nur weil ich mich um unsere Tochter kümmere, muss mein Mann trotzdem den Staubsauger in die Hand nehmen. Wer nachts aufsteht, wenn Berit schreit, und wer die schmutzigen Windeln rausbringt – alles muss ausgehandelt werden. Weiteren Nachwuchs planen wir nicht. Mit 43 fühle ich mich nicht fit genug, und das Risiko für genetische Defekte wäre zu hoch. Zu dritt sind wir als Familie komplett. Und total glücklich.“
Interviewmit Familientherapeut Dr. Matthias Ochs
„Das Zauberwort heißt Zeit“
Dr. Matthias Ochs, Dipl.- Psychologe, systemischer Familientherapeut und Buchautor
VITAL: Kinder brauchen starke Eltern. Aber welches Familienmodell brauchen Eltern, damit sie stark sein können?
Dr. Matthias Ochs: Ein Modell, das es ihnen ermöglicht, ihre Kinder und sich selbst zu finanzieren. Eltern brauchen Stabilität und Selbstmanagement. Sie sollten wissen, welche familiären Regeln und Rituale sie selbst zufrieden machen. Es geht Kindern immer nur so gut wie ihren Eltern. Für Frauen hieß Familiengründung lange Abhängigkeit. Bis 1977 durften Männer ihren Ehefrauen verbieten, arbeiten zu gehen.
Was hat sich geändert?
Der Mann verdient das Geld, die Frau erzieht die Kinder – dieses Familienmodell wurde bis in die Mitte des 20. Jahrhunderts idealisiert. Heute leben Frauen freier als ihre Großmütter. Andererseits werden sie beruflich noch immer ausgebremst. Schuld daran ist die in Deutschland verbreitete Überzeugung, dass Mütter die ersten drei Jahre nach der Geburt beim Kind bleiben sollten. Nach wie vor belegt aber keine Studie, dass Kinder irgendeinen Schaden nehmen, wenn die Mütter zügig wieder an den Arbeitsplatz zurückkehren.
Patchwork-Familien sieht man in Hollywood- Filmen und im Schloss Bellevue. Dadurch scheint dieses Modell fast ein bisschen glamourös.
In der Realität finden es wohl alle eher anstrengend, weil oft verschiedene Familienkulturen aufeinanderprallen. Viele Paare lassen den Kindern und sich selbst nicht genug Zeit, um sich an die großen Veränderungen zu gewöhnen.Familienforscher sagen, eine Patchwork-Konstellation ist erst nach fünf bis sieben Jahren stabil.
Klicktipps für Alleinerziehende
Auf dem Internetportal www.die-alleinerziehenden.de können sich getrennt lebende Mütter und Väter austauschen. Auf facebook.de freut sich die Gruppe „Alleinerziehende Väter sind cool“ über männliche Neuzugänge.
Wie können Patchwork-Eltern die Familie zusammenhalten?
Sie sollten vor allem auf ihre Zufriedenheit als Paar achten. Wenn es in der Beziehung kriselt, können Trennungskinder die Konflikte noch weniger auffangen als leibliche Kinder. Der Familienbetrieb muss gut organisiert sein, weil die meisten Kinder im Wechsel bei Mama und Papa wohnen und sich alle Stiefkinder ab und an gemeinsam um einen Tisch versammeln sollten.
Ist das klassische Familienmodell doch das Beste?
Für Kinder ist es am einfachsten, wenn sich Mama und Papa lieben. Aber eine Scheidung ist besser als eine chronisch konfliktbeladene Paarbeziehung. Studien zeigen, dass sich Scheidungskinder in ihrer psychischen Entwicklung langfristig nicht von Kindern aus intakten Beziehungen unterscheiden. Problematisch für die kindliche Psyche sind vor allem die ersten drei Jahre nach dem Zerfall der Familie.
Familie bedeutet Heimat, Sicherheit und Intimität. Mit neuen Ehepartnern oder Adoptivgeschwistern zieht aber etwas Fremdes zu Hause ein. Wie kann Familie trotzdem gelingen?
Auch hier ist der Schlüssel die Zeit, die sich die Familie nehmen sollte, um zusammenzuwachsen. Hilfreich sind auch Rituale wie ein gemeinsames Sonntagsfrühstück und viele Unternehmungen, also gemeinsame positive Erlebnisse.
Spaß hat man auch mit Freunden.
Ja, aber Freunde können die Familie nicht ersetzen. Die Verbundenheit zwischen Geschwistern, Eltern und Kindern sieht in der Regel qualitativ anders aus – vielleicht auch in gewisser Hinsicht intensiver. Gerade die Liebe der Großeltern ist doch durch nichts zu ersetzen.
Viele Großeltern haben keine Zeit, um ihre Enkel zu bespaßen.
Dass die sogenannten jungen Alten wegen ihrer vielen Hobbys und Freunde keine Zeit für ihre Enkel haben, ist sehr schade. Das Verantwortungsgefühl der Generationen füreinander nimmt offensichtlich ab. Es wohnen ja auch nicht mehr viele Generationen unter einem Dach.
Was sagen Sie zu den neuen Vätern?
Ich erlebe in meiner Paarberatung häufig, dass Frauen von ihren Partnern eher etwas Konservatives fordern, nämlich, dass sie die Familie finanzieren. Die heutigen Väter stehen unter massivem Leistungsdruck. Sie sollen vormittags gut verdienen, nachmittags Legotürmchen bauen und abends ein offenes Ohr für familiäre Probleme haben. Viele Männer wollen keine Familie gründen aus Angst zu versagen. Erst wenn sie sich beruflich etabliert haben, trauen sie sich die Rolle des Familienvaters zu. Manchmal ist es dann schon zu spät.
Welches Familienmodell macht denn nun glücklich?
Das muss jedes Paar für sich herausfinden. Ich möchte alle zu Familie und Partnerschaft ermutigen. Egal in welcher Form.
Die Patchwork-Familie
Jutta Neubecker-Kühl,44, mit Ehemann Andreas, 42, seinen Kindern Lennard, 16, und Alina, 18, und ihrer Tochter Charlotte, 15
Jutta: „Wir haben unseren Kindern eine Menge zugemutet, als wir uns vor sieben Jahren von unseren Ehepartnern trennten. Die Kinder waren verletzt und traurig. Eine schlimme Zeit. Familie bedeutet ja auch Emotionalität und Intimität. Zu Hause lässt man die Hüllen fallen, man muss sich nicht verstellen. Das funktioniert aber nicht, wenn die Kinder plötzlich mit einem für sie noch fremden Mann Bad, Sofa und Kühlschrank teilen sollen.
Wir brauchten alle viel Zeit, um uns an unsere neue Familie zu gewöhnen. Deshalb sind wir erst nach fünf Jahren zusammengezogen. Und erst jetzt bewegen sich alle ganz natürlich bei uns, eben so, wie man es von zu Hause gewohnt ist. Die Kinder schließen sich nicht mehr im Badezimmer ein, und schlechte Laune wird auch mal rausgelassen. Zum Glück!

Wenn wir abends alle zusammensitzen und Doppelkopf spielen, ist Stimmung in der Bude.
Wir sind als Familie zwar nicht wirklich miteinander verschmolzen. Dafür sind unsere Temperamente zu unterschiedlich. Aber wir lernen voneinander, sind tolerant geworden und gehören irgendwie zusammen. Wir mussten viele Konflikte lösen, die in Standardfamilien gar nicht auftauchen. Welche Elternteile lädt man zur Konfirmation oder zur Abifeier ein? Bei wem feiern die Kinder Weihnachten, und wer ist an welchem Wochenende zu Hause? Wir haben die Regelung gefunden, dass unsere Kinder jedes zweite Wochenende zu den anderen Elternteilen fahren. Dann ist es zwar ziemlich leer bei uns, aber so haben wir als Paar auch mal Zeit zu zweit. Und kleine Auszeiten braucht man gerade in einer so lebhaften Patchwork- Familie wie unserer unbedingt.“
Das Mehrgenerationen-Haus
Sandra Wulf, 39, lebt mit ihren Eltern Christa, 66, und Rüdiger Reitz, 70, Ehemann Hand Markus, 40, und Charlotte, 7, Hendrik, 5, und Theresa, 1, zusammen
Sandra: „Angst vor Einmischung hatten wir schon, als wir unsere Stadtwohnung kündigten, um zu Oma und Opa in die beiden oberen Hausetagen zu ziehen. Wir haben klare Regeln vereinbart, wie unser Leben als Gemeinschaft aussehen soll. Zum Beispiel, dass sofort angesprochen wird, wenn jemand genervt ist. Kein Beleidigtsein, kein Hinter-verschlossenen- Türen-Meckern. Das funktioniert seit fünf Jahren super. Meine Eltern freuen sich, dass Leben in der Bude ist. Opa spielt Fußball mit den Großen. Oma klingelt jeden Samstag um 9 an unserer Wohnungstür und fragt, wer mit ihr zum Bäcker joggt. [bild|3| left]
Es ist ein Geben und Nehmen: Mein Mann schleppt seinen Schwiegereltern die Getränkekisten vor die Tür. Und wir geben das Babyfon ab, wenn wir zu zweit ins Kino gehen wollen. Der einzige Konflikt: dass wir unser Stück Garten manchmal nicht akkurat pflegen. Dann heißt es: „Euer Laub weht zu uns rüber.“ Und es wird erwartet, dass wir das in Ordnung bringen. Das Tolle an unserer Großfamilie ist, dass wir keine Scheu haben müssen, uns gegenseitig um Hilfe zu bitten. Bei Freunden überlege ich zehnmal, ob ich ihnen drei Kinder für eine Stunde zumute. Oma dagegen hört schon an meiner Stimme, dass sie jetzt dringend gebraucht wird. Sie fackelt nicht lange, sie hilft. Wenn ich unter Zeitdruck stehe, sage ich zu den Kindern: „Geht doch mal runter und schaut, was Oma so macht.“ Und Oma findet garantiert eine Beschäftigung. Für uns ist das Familienhaus die optimale Lebensform.“
Die Regenbogen-Familie
Das Paar Susan Khallaf, 41, und Urte Glocke, 42, lebt mit dem Paar Christian König, 48, und Peter Mielke, 49, und den gemeinsamen Töchtern Hanna, 4, und Lena, 2, in benachbarten Wohnungen
Susan: „Kinder brauchen Väter, auch wenn die Mütter lesbisch sind. Meine Frau und ich wollten unbedingt eine Familie. Peter und Christian haben wir bei unseren Hochzeitsvorbereitungen kennengelernt, Christian organisierte das Catering. Daraus entstand eine tolle Freundschaft. Beim Kaffeetrinken in Christians Café „König & König“ haben wir die Männer irgendwann gefragt, ob sie sich vorstellen könnten, mit uns ein Kind zu zeugen und aufzuziehen. Christian war sofort begeistert, Peter brauchte neun Monate zum Nachdenken. Dann war auch er überzeugt.
Wir sind zu viert in den Urlaub gefahren, um uns besser kennenzulernen und zu prüfen, ob wir auch erziehungsmäßig auf einer Wellenlänge sind. Von Anfang an passte alles super. Wir haben beschlossen, dass Peter und ich die biologischen Eltern werden und dass wir es mit künstlicher Befruchtung versuchen. Wir haben uns riesig gefreut, als ich tatsächlich schwanger wurde. Inzwischen haben wir zwei Töchter und leben in zwei Wohnungen mit Durchgangstür. Die Betreuung teilen wir so auf, dass jedes Paar gleich viel Zeit mit den Mädchen verbringt. An jedem Wochentag ist ein Elternteil für die Nachmittagsplanung nach der Kita, für Einkäufe und sämtliche Entscheidungen rund um die Kinder zuständig. An den Wochenenden wechseln wir uns ab.
Gestritten wird bei uns eigentlich nur über Geschenke. Die Kinder haben mehrere Großelternpaare, jede Menge schenkfreudige Tanten und Onkels und unseren großen Freundeskreis. Damit wir für Puppenwagen und Teddys keine dritte Wohnung mieten müssen, muss jedes Elternteil seine Bekannten geschenketechnisch im Griff haben – was nur mäßig klappt. Mittwochs ist Familienabend, da kochen und essen wir zusammen. Ansonsten hat jedes Paar seinen eigenen Haushalt. Wenn Mama-Tag ist und die Mädchen spontan die Papas sehen wollen, klopfen sie an die Durchgangstür. Das kommt aber selten vor. Meistens wollen sie genau da sein, wo sie gerade sind.“
Die Adoptiveltern
Oda Ellguth, 43, und ihr Mann Dirk, 45, haben die Kinder Clara Thu Hang, 13, und Van Nhan, 11, aus Vietnam und Romain , 6, aus Madagaskar adoptiert
Oda: „Noch ehe wir wussten, dass es mit eigenen Kindern nicht klappt, dachten wir an Adoption. Ich bin selbst adoptiert und hatte eine schöne Kindheit. Diese Art der Familiengründung ist für mich etwas Natürliches. Wir wollten Kindern aus dem Ausland eine Chance auf Familie und ein sicheres Zuhause geben. Wir entschieden uns für Vietnam, weil uns die asiatische Kultur vertraut ist. Es folgten endlose Seminare, Gespräche und viel Papierkram. Dann rief die Adoptionsorganisation an: „Sie dürfen fliegen, es ist ein Mädchen, sie heißt Thi Thu Hang.“

Wir kannten weder ihr Gesicht noch ihre Geschichte. Mit Lampenfieber flogen wir nach Vietnam. Nach wochenlangen Anhörungen und Gerichtsverfahren durften wir unsere Tochter endlich abholen. Sie war das schönste Kind von allen. Es war sehr berührend. Man adoptiert aber nicht immer ein properes Baby, das einen fröhlich anlächelt. Manche Kinder sind durch den Heimaufenthalt traumatisiert, viele krank.
Mit Geduld und Liebe haben wir allmählich Vertrauen aufgebaut. Inzwischen haben wir noch zwei Kinder adoptiert. Uns ist es sehr wichtig, viel Zeit zu fünft zu verbringen, das stärkt den Familienzusammenhalt. Wir machen Musik oder gehen schwimmen. Der Alltag ist manchmal schwierig, weil adoptierte Kinder nicht das typische Urvertrauen mitbringen. Viele haben etwas Schlimmes erlebt. Manchmal denke ich, wir gehen drei Schritte vor und zwei zurück. Aber das ist okay. Ich bin nicht der Typ für die Mutti-Olympiade. Meine Kinder müssen nicht schneller und toller sein als andere. Für mich zählt, dass wir mit der Zeit eine echte Familie geworden sind.“