
Besonders zutraulich sieht er nicht aus, der Mandrill. Misstrauisch scheinen seine Augen zu fragen: „Was willst du von mir? Wenn du noch einen Schritt näher kommst, bin ich weg.“ Viel wissen Zoologen bislang nicht über das Sozialverhalten des Affen, einem 61 bis 76 Zentimeter großen Verwandten der Meerkatzen, der im zentralafrikanischen Regenwald lebt. Denn sobald ihn jemand studieren will, gibt er Fersengeld. Ein ziemlich scheuer Zeitgenosse, denken wir – und stutzen kurz darauf: Dürfen wir Tiere derart vermenschlichen? Doch viele Tierbesitzer sind seit jeher überzeugt – wissenschalich belegt war es bislang nie –, dass ihre Gefährten eine eigene Persönlichkeit besitzen. Im Gesicht eines Hundes erkennen wir Freude, Neugier oder Langeweile. Bei jedem Zoobesuch haben wir das Gefühl, auch menschliche Charaktereigenschaen zu sehen. Einen Elefanten halten wir für bedächtig und umsichtig, einen jungen Schimpansen für frech und aufmüpfig, den putzigen Axolotl für neugierig. Wir lesen, ohne es zu wollen, in ihren Gesichtern und Gesten wie in Menschen. Reine Einbildung? Wunschdenken? Nein, sagen immer mehr Wissenschaftler. Inzwischen gilt sogar als sicher, dass neben körperlichen auch Persönlichkeitsmerkmale ein (genetisches) Erbe der Evolution sind – und sich demnach zuerst im Tierreich entwickelt haben.
Tiere hatten Charakter, bevor es den Menschen gab
Die Persönlichkeitsforschung hat eine lange Geschichte: Schon in den 1930er- Jahren begannen US-Psychologen, ein „Fünf-Faktoren-Modell“ unserer Persönlichkeit zu entwickeln. Sie legten fünf Grundbausteine fest, aus denen sich jeder menschliche Charakter zusammensetzt: 1. Neurotizismus – unsere emotionale Stabilität; 2. Extraversion – das Interesse am Austausch mit anderen Menschen; 3. Offenheit für Erfahrungen, also Neugier und Kreativität; 4. Verträglichkeit – die Fähigkeit, sich mitfühlend, hilfsbereit und nachsichtig zu verhalten; und 5. Gewissenhaftigkeit im Sinne von Beharrlichkeit, Berechenbarkeit und Zuverlässigkeit. Verhielte sich ein Mensch wie ein ängstlicher Mandrill, würden ihm Psychologen demnach eine recht neurotische, nervöse und stressanfällige Persönlichkeit attestieren.
Oder es in ihrer Fachsprache etwa so ausdrücken: „Der Klient erreicht niedrige Werte auf der Neurotizismus-Skala.“ Auf die Idee, auch bei Tieren nach den „großen Fünf“ (engl.: Big Five) zu fahnden, kam jahrzehntelang niemand. Oder er wurde sofort zurückgepfiffen. So wie die berühmte Verhaltensforscherin Jane Goodall – gerade, am 3. April, 80 Jahre alt geworden –, die bereits Anfang der 1960er- Jahre behauptete, jeder Schimpanse im ostafrikanischen Gombe-Nationalpark zeige sein eigenes Temperament. Sie sollte recht behalten. Heute behauptet kein seriöser Forscher mehr, dass nur wir Menschen die „großen Fünf“ besitzen. „Wir teilen sie uns mit anderen Primaten“, sagt Prof. Alexander Weiss von der Universität Edinburgh in Scholand. Mithilfe des Fünf-Faktoren-Modells entwickelte er einen neuen Persönlichkeitstest – für alle Menschenaffen und den Homosapiens. „Den füftnen Faktor, Gewissenhaigkeit, fanden wir interessanterweise nur bei Menschen und Schimpansen, aber nicht bei Orang-Utans“, so Weiss. Seine Vermutung: Für Lebewesen, die in großen sozialen Gruppen (über-)leben, war und ist dieser Charakterzug von Vorteil. Einzelgänger wie der Orang-Utan können dagegen auf ihn verzichten.
Jetzt erforscht: mutige Kojoten und schüchterne Grillen
Aber nicht nur bei Primaten stießen Tierforscher in jüngster Zeit auf vermeintlich typisch menschliche Eigenschaen: So beobachtete der Biologe Stanley Gehrt von der Ohio State University über 13 Jahre lang Kojoten. Er entdeckte unter ihnen extrem mutige Artgenossen, die eine viel befahrene Straße überquerten, um an Fuer zu kommen – und vorsichtige Charaktere, die das niemals wagten. Bei seinen Verhaltensstudien stieß Gehrt auf „enorme Unterschiede im Verhalten, die man nur mit einer unterschiedlichen Persönlichkeit erklären kann“. Genauso gibt es verträgliche schoische Wildkatzen und übellaunige, aggressive. Oktopusse lassen sich in die drei Charaktertypen „schüchtern“, „passiv“ und „aggressiv“ einteilen. Sogar bei Insekten stellten Forscher solche Unterschiede fest: Einige Fruchtfliegen sind wahre Entdecker und fliegen weit, um ein neues Zuhause zu finden, andere bleiben in der Nähe des Ortes, an dem sie aus dem Ei schlüpen. Oder Grillen: Selbstbewusste Exemplare rufen laut und oft nach Weibchen; die Schüchternen dagegen singen leise und nur dann und wann. Das kommt Ihnen bekannt vor, oder? „Jedes Tier verfügt genau wie wir Menschen über gleichbleibende Macken, Ticks, Vorlieben und Abneigungen, die es von anderen Vertretern seiner Spezies deutlich unterscheiden“, sagt der Verhaltensforscher Andrew Sih von der University of California. „Mit dem Unterschied, dass ein Tier dem strengen Diktat seiner charakterlichen Merkmale stärker ausgesetzt und es daher weniger flexibel ist.“
Besondere Tiere geben uns eine besondere Kraft
Seit Jahrtausenden halten wir Tiere als Begleiter und Helfer. Kein Wunder, dass sie unsere Sprache prägen: Manchmal fühlen wir uns hundemüde, laufen hektisch herum wie ein aufgescheuchtes Huhn, verhalten uns katzenhaft launisch oder bleiben stumm wie ein Fisch. Im Laufe der Zeit fanden die Tiere in unserer Nähe Eingang in unzählige Geschichten oder wurden zu Gottheiten erhoben. „Tiererfahrungen haben sich uns eingeprägt und sind als ein kollektives Menschheitsgedächtnis in jedem Einzelnen aufgehoben“, sagt die Psychologin Helen I. Bachmann.
Tiere tauchen auch in unseren Träumen auf, als Vermittler zwischen Unbewusstem und Bewusstem, Unfassbarem und Fassbarem. Ein solches Tierbild können wir „betrachten und in Beziehung zu ihm treten, es befragen und seinen Sinn abwägen“, so die Psychologin. „Es kann dazu beitragen, ein Problem besser zu verstehen oder eine individuelle Lebenssituation zu klären.“ Im Schamanismus kommt den Kratieren eine besondere Bedeutung zu: das Tier als Energiequelle und schützender Begleiter. Eine aktuelle Studie der British Psychological Society ergab zudem, dass Kinder und Jugendliche, die mit Tieren aufwachsen, stabilere Beziehungen zu anderen entwickeln, später sozial engagierter und selbstbewusster handeln. Tiere fördern Bindung und machen stark – und sind uns so viel näher und ähnlicher als gedacht. Deshalb tun sie uns so gut. Blicken wir in die Augen eines Tieres, schauen wir auch immer in einen Spiegel ...