
Dass ein paar Studenten ihre Idee umgesetzt haben, nimmt Heidrun Rahlmeier nicht krumm. „Damals gab es die ganze Technik ja noch gar nicht“, erzählt die 63-jährige Hamburgerin. „Ich war medizinisch-technische Assistentin und sah immer auf dem Weg zur Arbeit, dass in den meisten Autos nur eine Person saß. Ich dachte: Das muss doch anders gehen. Aber mir fiel eben keine Lösung ein, wie man die Menschen zusammenbringt.“
Heute genügt ein Mausklick. Die Internetseite www.tamyca.de (von „take my car“, also: „Nimm mein Auto“) – von den besagten Studenten 2010 gestartet – bringt Privatleute zusammen, die ihr Fahrzeug gerade nicht brauchen, und solche, die günstig und kurzfristig von A nach B wollen. Dafür zahlt der Mieter 22 Euro am Tag. 10 Euro verdient der Vermieter. Der Rest ist für eine Versicherung, die ihn vor Schäden und Diebstahl schützt. Heidrun Rahlmeier bietet ihren VW Polo seit fast einem Jahr an. Neunmal hat sie ihn bislang anderen überlassen. „Bis auf einen Kratzer vorn ist nie etwas passiert“, erzählt sie zufrieden. „Hauptsache, mein Auto steht sich nicht mehr kaputt.“
Teilen ist das neue Besitzen. Wer Dinge nicht mehr braucht, gibt sie weiter
Mit ihrer Einstellung ist Heidrun Rahlmeier längst keine spleenige „Öko-Tante“ mehr. Weltweit beobachten Konsumforscher und Psychologen eine tief greifende Veränderung im Verhalten von Millionen Menschen: Ihnen allen geht es nicht länger darum, Dinge zu besitzen. Sie wollen sie bloß nutzen. Und wenn sie damit fertig sind oder eine Sache gerade nicht brauchen, geben sie sie ab.
Teilen ist das neue Besitzen. „Wir erleben eine Verschiebung von der Ich-Kultur hin zur Wir-Kultur“, sagt die amerikanische Autorin Rachel Botsman. Von ihr stammt auch der Fachbegriff für das junge Phänomen: collaborative consumption (etwa: gemeinschaftlicher Konsum).
„Mein Mann Chris und ich lieben die TV-Serie ,24’“, gibt die Expertin ein Beispiel. „Hat man aber zweimal gesehen, wie Jack Bauer Terroristen besiegt, will man es kein drittes Mal.“ Doch Botsman hat noch eine Leidenschaft: „Sex and the City“. „Ich habe zehn Jahre in New York gelebt“, sagt sie. Zu gern wollte sie damals den ersten Kinofilm vor dem Start der Fortsetzung noch mal sehen, nur: Ihr fehlte die DVD. „Ich fragte mich: Gibt es jemanden, dem es genau umgekehrt geht? Der ,24’ sehen will und ,Sex and the City’ nicht mehr?“ Sie surfte auf die Internetseite www.swap.com („swap“ = tauschen). „Ich bekam 59 300 Treffer.“
Teilen ist Kommunikation. Es kann Menschen (wieder) miteinander verbinden
Dahinter steckt ein verblüffend einfacher Gedanke: Es gibt keine nutzlosen Dinge, nur nützliche am falschen Ort. Und davon gibt es eine Menge: Das Online-Auktionshaus eBay schätzt, dass allein in Deutschlands Schränken ungenutzter Hausrat im Wert von 35,5 Milliarden Euro herumliegt. Das ergibt durchschnittlich 1013 Euro pro Haushalt. Die stellt man nicht einfach an die Straße. Doch für einen Stand auf dem nächsten Flohmarkt fehlt vielen die Zeit. Außerdem hatten Keller- oder Dachbodenaufräumen lange etwa so viel Charme wie die jährliche Steuererklärung.
Das Internet macht daraus nun ein Abenteuer – weil es dafür sorgt, dass die „Geschäftspartner“ direkt miteinander kommunizieren können – auch wenn der eine in Stuttgart und der andere in Sydney lebt. „Das ist für mich entscheidend.
ADRESSEN & TIPPS
Online teilen
Ein Auto steht rein statistisch 23 von 24 Stunden am Tag still, kostet aber trotzdem viel Geld. Wer daran etwas ändern will, ist bei dem privaten Carsharing-Anbieter www.tamyca.de genau richtig.
Wer viel und oft kurzfristig unterwegs ist oder im Urlaub lieber nette Einheimische als die Touristen im Hotel kennenlernen will, findet unter www.couchsurfing.org und www.airbnb.de Tausende Gleichgesinnter.
„Pretty Woman“ gegen „Sex and the City“? Donna Leon gegen Henning Mankell? Ruck, zuck tauschen, z.B. unter www.bambali.net, www.swapy.de oder www.tauschring.de.
Offline teilen
„Swap in the City“: Keine Lust mehr auf den Blazer? Dann weg damit! Das sind die nächsten Termine: 1. April in München, 6. Mai in Stuttgart, 3. Juni in Köln. Tickets (ca. 18 Euro) und Infos auf www.swapinthecity.com.
Das „World Sharety Project“ des Frankfurter Künstlers Mike Kuhlmann findet immer mehr Anhänger. Neben „Frankfurt teilt“ (vom 1. bis zum 31. Oktober) gibt es mittlerweile auch „Hamburg teilt“ (1. bis 31. Mai). Mehr Infos unter www.worldsharetyproject.com.
Teilen ist Kommunikation“, meint Prof. Steffen Koolmann, Lehrstuhlinhaber für Ökonomie und Gesellschaft an der Alanus Hochschule in Alfter bei Bonn. „Beim Verleihen handelt es sich sogar um einen doppelten Kommunikationsvorgang.“ Das Buch, die DVD oder der Akkuschrauber wird hin- und zurückgegeben. „Und spätestens bei der Rückgabe passiert ganz viel“, so Koolmann. „Hat dir das Buch gefallen?“ – „Fandest du die Szene auch so kitschig?“ – „Der Bohrer ist klasse, oder?“ Da entstehen ganz neue Beziehungen. Noch aufregender findet der Forscher Mitfahrzentralen, die inzwischen ebenfalls komplett online abgewickelt werden. „Da verabreden sich zwei Fremde und fahren zusammen in einem Auto Hunderte von Kilometern. Das finde ich hoch spannend“, sagt Koolmann.
Er sieht das Teilen deshalb auch als Entwicklung, die – so paradox es klingt – via Internet zurückholt, was durch das weltweite Netz gleichzeitig verloren geht: Es ist zwar praktisch, online Flüge zu buchen, Karten zu reservieren oder zu shoppen. Doch dabei sitzen wir allein vor dem Bildschirm. „Dazu kommt, dass in unserer globalisierten Welt viele Strukturen wegfallen, in denen teilen früher selbstverständlich war, etwa die Familie oder Dorfgemeinschaften“, ergänzt Koolmann. „Das neue Teilen gibt uns kommunikativen Halt zurück.“
Teilen ist Hilfe. Und helfen fühlt sich einfach gut an – für beide Seiten
Wer das Ganze nur für eine „Internet-Blase“ hält, irrt sich. Teilen klappt im realen Leben ebenfalls sehr gut und auch dann, wenn ein Gespräch zwischen den Teilenden kaum möglich ist, weil schlicht zu viele da sind. „Klar habe ich beobachtet, wen meine Kleider glücklich gemacht haben“, gibt Hanna Nikolayenko zu und lacht. „Ich teile gern.“ Im September 2011 war die Frankfurterin zum ersten Mal bei „Swap in the City“ („Tausch in der Stadt“) dabei. Die Idee: Jeder Gast bringt maximal zehn Kleidungsstücke oder Accessoires mit, die er nicht mehr trägt. Dafür bekommt er bunte Plastikchips, mit denen er dann Stücke „bezahlt“, die andere Gäste mitgebracht haben. Das Konzept stammt aus den USA. Allein in Frankfurt/Main hat es weit über 700 Frauen begeistert.
„Das Gewühl war schlimmer als Sommer- und Winterschlussverkauf zusammen“, sagt Hanna Nikolayenko. „Trotzdem war es ein wundervoller Abend.“
Kollektiver Tauschrausch? „Es ist einfach ein gutes Gefühl, anderen zu helfen“, weiß Prof. Georg Felser, Fachdozent für Markt- und Konsumpsychologie an der Hochschule Harz in Wernigerode. „Hilft man mir, fühlt sich das gut an. Aber teile ich etwas, was dem anderen nutzt, wirkt das noch viel stärker.“
Über 120 Unternehmen und Tausende von Bürgern ließen sich davon anstecken, als im Oktober 2010 die Aktion „Frankfurt teilt“ startete. 500 000 Euro, Zeit und Aufmerksamkeit kamen so für das „World Sharety Project“ zusammen. Initiiert hat es der Frankfurter Künstler Mike Kuhlmann, der aus den englischen Worten „share“ (teilen), „care“ (kümmern) und „charity“ (Wohltätigkeit) einen griffigen Namen für eine neue Lebenseinstellung schuf. Hier zeigt sich für Prof. Felser auch ihr besonderer Reiz. „Teilen hat enormen Charme, weil es auf Anhieb einleuchtet, dass es sinnvoll ist.“ Deshalb ist es auch für ihn mehr als ein Online-Phänomen. „Das Internet ist nur ein Vehikel. Dahinter stecken menschliche Bedürfnisse, die unabhängig davon sind.“
CDs und DVDs kauft und verkauft er schon lange gebraucht bei eBay. „Ich weiß zwar nicht, wie die Preise berechnet werden. Dennoch macht es Spaß“, erzählt Felser und lacht. Wieso? „Je höher der Preis taxiert wird, desto stärker entsteht bei mir der Eindruck, dass das, was ich anbiete, nützlich ist. Es zeigt mir, dass andere einen ähnlichen Geschmack haben wie ich. So entsteht Gemeinschaft, Zugehörigkeit.“ Teilen macht glücklich, weil es unser Ich, unser Selbstbild verortet.
Teilen ist Sorgfalt. Wer mit Geteiltem mies umgeht, fliegt raus
„Gleichzeitig wird es so möglich, verschiedene Identitäten durchzuspielen“, erklärt Felser. „Ich kann mal ein ganz anderes Auto fahren, in getauschter Kleidung jemand anders werden. Ich muss auf nichts verzichten, muss mich nicht festlegen, kann mein Selbstbild öfter variieren.“ Für ihn ist damit klar: „Die Zeiten, in denen Nachhaltigkeit gleichgesetzt wurde mit Konsumkritik oder -verzicht, sind vorbei“, so der Psychologe. „Teilen macht beides möglich: Ich kann nachhaltig handeln – und trotzdem konsumieren.“
Eine Hemmschwelle gibt es trotzdem. „Je höher ich eine Sache ästhetisch und persönlich bewerte, umso stärker befürchte ich, dass sie beschädigt zurückkommt“, sagt Koolmann. „Dann teile ich nur mit jemanden, der die Sache so hoch bewertet wie ich.“ Als er begann, sich für Musik zu interessieren, gab es noch Langspielplatten aus Vinyl, die man damals nicht so einfach herunterladen und kopieren konnte. „Da schaute man sich lieber dreimal tief in die Augen, bevor man eine LP mit anderen teilte.“
Marina Scholz verfährt heute wieder so. Seit drei Jahren ist sie „Couchsurferin“, kurz CS. Sie und ihr Mann Matthias bieten Fremden aus aller Welt an, auf dem Schlafsofa im Wohnzimmer kostenlos zu übernachten. „Bevor ich jemanden aufnehme, lese ich mir sein CS-Profil genau durch“, sagt die Floristin. Seit Tochter Laura (acht Monate) auf der Welt ist, umso mehr. „Leute, die bis spät in die Nacht um die Häuser ziehen wollen, sind bei uns falsch. Die Gäste müssen sich schon anpassen.“ Das CS-Profil und vor allem Bewertungen durch andere zeigen, wer das kann – und wer nicht.
Soziale Kontrolle per Mausklick. Sie sorgt auch dafür, dass kaum eine geteilte DVD zerkratzt, beim privaten Carsharing fast nie ein Auto gestohlen und eine CS-Wohnung nicht verwüstet wird. „Die Nutzer wissen, dass ihr Verhalten heute Auswirkungen hat auf ihre Fähigkeit, morgen Geschäfte zu machen“, sagt Rachel Botsman. Dennoch empfiehlt Steffen Koolmann, für jeden Teilvorgang Spielregeln zu vereinbaren. „Auf diese müssen sich alle Seiten einlassen. Das vermeidet Stress“, rät der Experte. „Schließlich findet das Teilen in einem nahezu rechtsfreien Raum statt. Umso wichtiger ist es, klare Vereinbarungen zu treffen.“ Wenn es die gibt, ist Koolmann überzeugt, wird der gemeinschaftliche Konsum in Zukunft nicht bei materiellen Dingen stehen bleiben. „Fähigkeiten könnten auch geteilt werden“, überlegt der Experte. „Auch die Frage, ob Luft, die wir ja eigentlich alle teilen, durch CO2-Zertifikate privatisiert werden sollte, gehört für mich dazu.“ Vielleicht ist gemeinschaftlicher Konsum der Beginn einer Antwort. „Teilen ist für mich das Schmunzeln des Konsumenten“, sagt Koolmann. „Es ist ein Seitenhieb in Richtung Hersteller: Es geht auch anders.“ Teilen macht glücklich, weil es die Welt vielleicht ein bisschen verändern kann.