
Corinne selbst hätte die Reißleine nie gezogen. Sie war dazu gar nicht mehr in der Lage, zu eingesponnen war sie in ihren klebrigen Kokon aus Angst. Ständig machte sie sich Sorgen. „Vor allem darum, dass meinem Mann, den Kindern oder mir etwas zustoßen könnte“, erzählt die 43-jährige Berlinerin. Viel zu oft rief sie ihre Lieben auf dem Handy an, um zu hören, das alles okay sei. Sie bekam Herzrasen, wenn ihr Mann sich mal verspätete. Als ihre Tochter mit der Klasse in die Skifreizeit fuhr, dachte Corinne an Busunfall und Seilbahnunglück. Ihre Gedanken kreisten um Leben und Tod, um Verfall und Krankheit. Der Stress, unter dem sie stand, hatte auch körperliche Folgen: Corinne litt unter nervösem Durchfall, Hitzewallungen, Kopfweh und Konzentrationsstörungen. „Es gab immer öfter Streit, weil ich meine Familie nur noch nervte“, erinnert sich die Halbfranzösin. Corinnes Mann schließlich brachte sie zu einem Therapeuten, der eine schwerwiegende Angststörung diagnostizierte.
Etwa jeder achte Deutsche leidet unter starker Angst, die sein Leben und das seines Umfelds beeinträchtigt. Am häufigsten kommen sogenannte einfache Phobien vor wie die Angst vor Spinnen. Auf den Plätzen folgen soziale Phobien, Panikattacken und die generalisierte Angststörung, unter der auch Corinne litt und die rund 1,6 Millionen Deutsche Deutsche haben. Eine ernste Erkrankung – die allerdings gar nicht so abwegig erscheint. Zwar leben wir mit der Idealvorstellung, dass wir alles meistern können und uns nichts umwirft. Ängste sind da nicht vorgesehen. Aber Hand aufs Herz: Sorgen Sie sich nicht auch um die, die Ihnen wichtig sind? Denken Sie nicht über Krankheiten wie Alzheimer nach, nur weil Sie schon öfter mal was vergessen haben? Und dieses bleierne Gefühl im Bauch, wenn jemand auf einer Autobahnbrücke steht – könnte ja ein Steinewerfer sein. Ist das schon übertrieben? Wo liegt die Grenze zwischen Besorgnis und Sorgenkrankheit, und wann driften Zweifel und Anflüge von Lebensangst in behandlungsbedürftige Sphären ab?
Normale Angst unterscheidet sich von einer Angststörung nicht durch die Inhalte“, erklärt Isabelle Drenckhan, Therapeutin bei der Christoph-Dornier-Stiftung für Klinische Psychologie in Münster. „Entscheidend sind Kriterien wie Dauer, Intensität und Kontrollierbarkeit.“ Ängstlichkeit und sorgenvolles Grübeln können sogar sehr hilfreich sein, wenn es darum geht, ein Problem zu lösen. Wenn allerdings, so wie bei Corinne, 95 Prozent der Zeit mit unfruchtbarem Nachdenken über Schreckensszenarien verbracht werden, ist etwas aus dem Ruder gelaufen. Vor allem, wenn das schon länger als sechs Monate so geht. Spätestens dieser Zeitfaktor gilt bei Therapeuten als Trennlinie zwischen gesund und krankhaft. Aber auch wenn Angst sich verselbstständigt und auftritt, obwohl keine reale Gefahr besteht, ist das ein Anzeichen dafür, dass sie zu sehr dominiert.
Tatsache ist, dass wir alle mit Ängsten leben, die uns das Leben bisweilen schwer machen. Und die Zukunft ein bisschen trüber: So fürchten sich nach einer aktuellen Studie der R+V Versicherung 54 Prozent aller Deutschen davor, im Alter ein Pflegefall zu werden. 49 Prozent haben Angst vor schweren Krankheiten und fast jeder Dritte (30 Prozent) macht sich Sorgen darüber zu vereinsamen, wenn er alt wird. Ganz oben auf der Liste steht mit 66 Prozent die Sorge um die schlechtere Wirtschaftslage und höhere Arbeitslosigkeit.
Egal, wovor man sich letztlich am meisten fürchtet: Fatal an der Angst ist, dass der Verstand sie allzu schnell rechtfertigt und ein logisches Deckmäntelchen drüberzieht. „Rationalisieren“ nennen das die Angsttherapeuten und Autoren Ines von Witzleben und Aljoscha A. Schwarz („Endlich frei von Angst“, Gräfe und Unzer): Fliegen ist riskant, weil Flugzeuge abstürzen können. Die Sorge, eine Rede zu halten, ist begründet, weil man sich wirklich blamieren kann. Die Furcht vor Brustkrebs ist berechtigt, weil jede achte Frau daran erkrankt. Dem Gefühl der Angst wird der Anstrich des Erklärbaren gegeben. Oder es wird bagatellisiert, nach dem Motto: „Meine Angst nervt mich zwar, aber andere sind noch viel schlechter dran.“ Die Gefahr dabei: Man findet sich mit seiner Situation ab und leidet weiter. Letztlich versucht unser Verstand mit beiden Methoden, Ängste zu relativieren und Sicherheit vorzugaukeln. Mit dem Erfolg, dass sich nichts ändert und die Sorgen sich höchstens verfestigen.
Dass Ängste auch ein kollektives soziales Phänomen sind, „in das man sich wechselseitig hineinsteigert“, so der Bielefelder Historiker Joachim Radkau, ist uns allen spätestens seit der „Schweinegrippe“ bestens bekannt. Quasi im täglichen Wechsel überwogen bei Epidemieforschern und Medizinern mal die Argumente für die Impfung, dann wieder dagegen. Vom Pandemieplan bis zum Mundschutz wurde das Thema durchgekaut. Und es passierte, was der britische Risikoforscher Bill Durodié als „Rolling fear“ bezeichnet – die Furcht vor der Schweinegrippe schwappte wie eine riesige Welle über die Gesellschaft hinweg.
Doch was kann man dann eigentlich tun, damit Angst nicht überhandnimmt? „In der Therapie ist die bewährteste Methode nach wie vor die Konfrontation“, sagt Psychologin Drenckhan. Patienten setzen sich bewusst ihren größten Nöten aus und lernen, diese auszuhalten. Durch die Erfolgserlebnisse werden die angstauslösenden Situationen im Kopf immer mehr als „nicht gefährlich“ markiert. Auch Corinne lernte nach und nach unter professioneller Anleitung, ihre Sorgen durchzustehen. Sie musste sich beispielsweise ihre Kontrollanrufe verkneifen, bis sich der Körper an die durch die Ungewissheit ausgelöste Angst gewöhnt hatte. Ein Trainingseffekt, der auch greift, wenn Angst nicht krankhaft ist. „Lassen Sie Angst nicht frei flottieren. Denken Sie konkret und mit allen Facetten zu Ende, was Sie beschäftigt“, rät Psychologin Drenckhan. Hilfreich ist es auch, informiert zu sein. Wer sich beispielsweise vor dem Fliegen fürchtet, kann in Statistiken lesen, wie viele Millionen Fluggäste täglich unbeschadet starten und landen (siehe auch weitere Tipps zur Selbsthilfe).
Schließlich muss man auch ein gewisses Restrisiko akzeptieren. Das Leben ist nun mal geprägt von vielen Unsicherheiten, aber eben auch von Freude und Weiterentwicklung. Ideal wäre es, sogar das Positive an der Angst zu entdecken. Man weiß, dass ein mittleres Angstlevel sehr befeuernd wirkt. Egal, ob im Sport, bei einem Auftritt oder in einer Prüfung: Ein ängstlicher, leicht neurotischer Mensch, der alles durchdenkt, sich Gedanken macht und stetig zweifelt, ist im Kopf wendiger, spielt Alternativen durch und kann zur Höchstform auflaufen. Der Göttinger Psychologieprofessor Borwin Bandelow, einer der weltweit führenden Angstforscher, bezeichnet das Gefühl sogar als Superbenzin für Erfolg. Weil sie „zu schöpferischem Handeln anregt und die Fantasie und Kreativität steigert“. Klingt nach einer guten Nachricht. Und die hat selbst die Angst mal verdient.
Tipps zur Selbsthilfe
Es gibt viele Möglichkeiten, Ängste zu überwinden. So helfen Sie sich selbst
Wie Sie Denkmuster lösen, Abstand halten und entspannen Trauer, Trennung oder auch ein Neustart: Immer wieder gibt es im Leben Phasen, in denen Ängste in den Vordergrund rücken. Wenn die Seele einen Dämpfer abkriegt und beispielsweise nur schwer über einen Verlust hinwegkommt. Oder weil gerade das Selbstvertrauen in die eigenen Fähigkeiten fehlt. Einige Tricks helfen dabei, aufkommende Furcht auszuhebeln:
- Keine Sorgenketten bilden! Angst vor Krebs, Schlaganfall und Herzinfarkt? Sorge um den Job des Ehemannes, die Zukunft der Kinder und den gesamten Planeten? Wenn es einmal anfängt, kann man sich schnell reinsteigern, aber Sorgenketten engen die Wahrnehmung ein. Psychologen raten dazu, öfter mal einen Schritt zurückzutreten und sich zu fragen: Ist das überhaupt realistisch? Wichtig: Ehrlich antworten, dann wirkt es schnell erdend.
- Informieren Sie sich Eine alte Weisheit besagt: „Angst macht dumm.“ Alte Weisheiten stimmen meistens, so auch diese. Denn wer sich vor etwas fürchtet, meidet es in der Regel, setzt sich nicht mit dem beängstigenden Thema auseinander und vergibt sich somit die Chance, seine Furcht zu überwinden. Oder festzustellen, dass alles halb so schlimm ist.
- Bewegung lenkt ab Treiben Sie Sport, um die Angst abzuleiten und um klassische Angstsymptome wie Herzjagen, Schwindel oder Schweißausbrüche auszubremsen. Ideal: laufen oder radeln an der frischen Luft. Wer im Büro ist bzw. nicht nach draußen kann: Fenster öffnen, ein paar Kniebeugen oder Liegestütze machen, Arme und Beine danach ausschütteln.
- Positive Selbstinstruktion Wenn Sie in einer bestimmten Situation Angst haben und mit Problemen rechnen, muss das deshalb nicht in einer Katastrophe enden. Stellen Sie sich mögliche Probleme als lösbar vor – ohne sie schönzureden oder einfach nur platt abzuwiegeln. Statt „Es wird schon nichts passieren“ lautet das Motto „Was auch immer passiert, ich werde damit zurechtkommen“.
- Paradoxe Intervention Ein Sorgenthema auszublenden, kostet viel Kraft und Energie, vor allem verstärkt es das Problem häufig nur. Deshalb kommt der Gegenangriff: Provozieren Sie Ihre Angst, tun Sie alles, damit genau das passiert, wovor Sie sich fürchten. Sie haben beispielsweise Angst, in Ohnmacht zu fallen? Schließen Sie die Augen und nehmen Sie sich gezielt vor, auf der Stelle umzufallen. Der Trick: Das Unterbewusste reagiert mit Trotz und verweigert die Symptome – das Muster der erwarteten Furcht wird durchbrochen.
- Ganz ruhig bleiben! Denken Sie daran: Angst ist normal und ungefährlich. Egal, wie stark sie auch sein mag – sie ist zwar unangenehm, aber nicht bedrohlich. Überlegen Sie nicht dauernd, was alles passieren könnte, richten Sie Ihre Gedanken auf das Hier und Jetzt. Meditative Worte oder Mantras wie „Ich bin Ruhe, ich bin Kraft, ich bin Stärke, ich bin Zuversicht“, die Sie sich vorsagen, wirken zusätzlich beruhigend.
- Richtig atmen Die Atmung sowie unsere körperliche und psychische Befindlichkeit hängen eng zusammen. Um „runterzukommen“, richten Sie Ihre Aufmerksamkeit gezielt auf die Atmung, auf das Auf und Ab des Brustkorbs, auf die Luft, die Sie einsaugen und die durch den Körper fließt. Achten Sie darauf, ruhig und tief zu atmen. Das Ausatmen sollte dabei doppelt so lange dauern wie das Ein- atmen – denn grundsätzlich gilt: Langes Ausatmen beruhigt, langes Einatmen stimuliert.
- Sorgen abstreifen Wer seine Nöte mit ins Bett nimmt, kann kaum entspannen. Denn nachts wirken Probleme erst recht erdenschwer, wenn die Gedanken ständig darum kreisen. Streifen Sie mit jedem Kleidungsstück, das Sie abends ausziehen, symbolisch ein Problem ab. Am nächsten Morgen können Sie sich wieder darum kümmern – aber bitte frisch und ausgeruht!