
Lasse ich mich vom Zeitgeist beeinflussen?
1. In Ihrem Gesicht sehen Sie erste Fältchen – und finden das unfair. Sie denken: Mit Disziplin und viel Geld könnte man da schon was machen. Sieht man ja bei Madonna. Die schindet sich zwar für die Schönheit – aber das Ergebnis ist auch umwerfend.
2. Eine Freundin betrügt ihren Mann. Sie finden das nicht okay. Aber vor ihr vertreten Sie die Meinung, dass es ja vor allem darauf ankomme, dass es ihr dabei gut gehe.
3. Ein Freund ist in seinem Job unglücklich. Sie raten ihm trotzdem, unbedingt durchzuhalten, weil man ja in der jetzigen Zeit überhaupt nicht weiß, ob man etwas Neues findet.
4. Wieder einmal rennen Sie abgehetzt zwischen Job und Kindern hin und her. Sie denken: Wäre ich nur besser organisiert und disziplinierter! Dann würde das bestimmt im Job und auch mit den Kindern viel besser klappen.
5. Sie achten auf Ihre Ernährung, machen Sport und sind überzeugt: Für seine Gesundheit ist man vor allem selbst verantwortlich! AUSWERTUNG: Wenn Sie sich in diesen Aussagen mehr als zweimal wiedererkannt haben, dann sind auch Sie – zumindest ein bisschen – vom aktuellen Zeitgeist geprägt…
Wie der Zeitgeist uns verbiegt
Mit dem Ich und dem Zeitgeist ist es wie mit Geschwistern: Mal lebt man friedlich nebeneinander, mal streitet man sich. Und: Man beeinflusst sich immer gegenseitig. Nehmen wir zum Beispiel das Ideal der „ewigen Jugend“. Prominenteste Vertreterin ist Madonna. Im letzten Jahr wurde der Popstar 50 – und sieht immer noch aus wie Ende 20. Natürlich weiß jeder, dass die Amerikanerin viel dafür tut: viele Stunden Sport am Tag, strenge Diät, Schönheitsoperationen. Fotos, die mit Hilfe digitaler Bildbearbeitung noch strahlender, glatthäutiger gemogelt werden. Uns ist klar: Madonna ist eine Kunstfigur, kein Mensch aus Fleisch und Blut. Aber das ist nur die bewusste Seite unserer Wahrnehmung, der kritische Verstand. Das Unbewusste kapiert kein bisschen, dass diese Frau nicht echt ist, sondern speichert genau das als mögliche Realität ab, was es sieht: eine 50-Jährige, die aussieht wie Ende 20.
Jede Erfahrung hinterlässt Spuren
Jede Erfahrung hinterlässt Spuren im Gehirn – und damit in unserem Ich
„Das emotionale Erfahrungsgedächtnis kann nicht zwischen realen und virtuellen Bildern unterscheiden“, erklärt die Psychologin Maja Storch. Unser Unbewusstes funktioniert noch genauso wie in der Steinzeit: Es sammelt ständig Eindrücke, um daraus zu lernen, vergleicht bestehende Annahmen mit neuen und stellt sich auf die Umwelt ein – ohne dass wir uns bewusst darum kümmern. Die Eindrücke aus der virtuellen Welt sortiert es gleichberechtigt dazu. Mit jedem Blick auf eine jugendlich aussehende 50-Jährige wird so unser inneres Bild vom „normalen“ Älterwerden jünger. Experimente an der Uni Zürich zeigen darüber hinaus, dass die so genannten Spiegelnervenzellen, die immer aktiv sind, wenn wir uns etwas von einem anderen Menschen abschauen, auch aktiviert werden, wenn wir eine virtuelle Person in einem Computerspiel beobachten. Auch lernen wir von Spielfilmen, welche Handlungen prinzipiell möglich sind.
Ob man diese Handlungsoptionen in die Tat umsetzt, hängt dabei von weiteren Faktoren ab. Vor allem von der Motivation. Und in Sachen Schönheit ist die Motivation häufig hoch: Wer den magazin-genormten Soll-Wert stark verinnerlicht hat, empfindet Falten oder schlaffe Haut als Hässlichkeit. Und weil inzwischen bekannt ist, dass die plastische Chirurgie da helfen kann, lassen sich pro Jahr fast 1 Million Deutsche für die Schönheit operieren. Vielleicht denken Sie jetzt: Was ist daran schlimm? Wer keine Stirnfalten will, darf sie doch entfernen! Das stimmt natürlich. Das Problem bei dem modernen Trend ist, dass so eine kleine OP eine riesige Bedeutung für das Selbstbewusstsein der Frauen hat. Ihr Ich ist so ängstlich und unsicher, dass sie es nicht ertragen kann, anders auszusehen als das Ideal. Doch statt ihr schwaches Ich zu stärken und zu lernen, sich als einzigartig anzunehmen, bauen sie sich mithilfe der Ärzte einen genormten, unangreifbaren Schutzwall um das unsichere Ich. Die grundlegende Unsicherheit der Person bleibt. Und damit auch eine ungesunde Abhängigkeit von der Meinung der anderen.
Diese Überanpassung des Ich an die Idealbilder unserer Zeit, die man wohl am besten mit „Leistung und Perfektion“ beschreiben kann, wirken sich nicht nur beim Schönheitsideal aus: Immer mehr Menschen perfektionieren mit Hilfe von Medikamenten ihre Leistungskraft und Stimmung, zeigt der aktuelle Gesundheitsbericht der DAK. Etwa 5 Prozent der Arbeitnehmer dopen sich für den Job. Diese Zahl ist recht gering. „Doch es wird zunehmend akzeptiert werden, Pillen auch zur beruflichen Leistungssteigerung einzunehmen“, sagt Frank Meiners, Psychologe bei der DAK. Frauen nehmen dabei viel häufiger potente Pillen als Männer, vor allem Stimmungsaufheller und Schmerzmittel. Männer bevorzugen konzentrationssteigernde Mittel. „Männer frisieren ihr Leistungspotenzial – Frauen polieren ihre Stimmungen auf“, sagt Meiners. Schöne neue Welt? Man kann diese Entwicklung natürlich durchweg negativ finden. Aber man kann auch sehen, dass es in gewisser Weise eine „normale“ Entwicklung ist.
Denn das Ich passt sich einfach den veränderten Umweltbedingungen an – so wie es sich seit Jahrtausenden bewährt hat. Perfekt und leistungsstark wollten die Menschen schon immer sein. Nur hängen die Idealbilder heute unglaublich hoch, und die Möglichkeiten zur künstlichen Optimierung sind viel größer als früher. Dramatisch ist eigentlich eher, dass wir bei all unseren Handlungen der Meinung sind, dass unser Ich eine vernünftige Entscheidung für unser Leben trifft. Dabei übersehen wir, dass das Ich keine feste Instanz ist, die weiß, wo es langgeht. Es ist vielmehr so etwas wie ein Lotse, den das Unbewusste einsetzt, um in der bewussten Welt zu agieren. Das Ich führt letztlich nur die Handlungen aus, die das Unbewusste längst aufgrund seiner Annahmen und Überzeugungen eingeleitet hat. Unsere bewusste Entscheidung folgt den unbewussten Idealen, die häufig stark von den geschönten Bildern und idealisierten Vorstellungen vom Leben geprägt sind und sich weniger an unseren authentischen Wünschen orientieren.
Lebenslanges Lernen
Wir entwickeln uns ein Leben lang. Bis zum letzten Atemzug lernen wir dazu
Konsequenzen hat diese Überanpassung nicht nur für uns selbst, sondern für die gesamte Gesellschaft: Wenn immer mehr Menschen leistungssteigernde Medikamente einnehmen, statt sich um einen angemessenen Lebensrhythmus zu kümmern, rutscht die Latte mit der Aufschrift „Gut gemacht!“ automatisch für alle weiter nach oben. Wenn der Glaube an die Macht über die eigene Gesundheit zu weit führt, dann ist es nur logisch, dass die Krankenkassen nur noch bezahlen wollen, wenn man nachweisen kann, dass man an einer Erkrankung nicht „selbst schuld“ ist. Wenn die Mehrzahl der Menschen das Alter fürchtet, dann ist es logisch, dass die Kosten der Altenbetreuung zum Buhmann für Löcher in den Staatskassen werden. Wenn Menschen sich nur lebendig fühlen, wenn sie Seitensprünge erleben oder sich gar nicht mehr fest binden, dann ist das Ideal der Freiheit in den Zwang, frei zu sein, gekippt.
Wenn sich alle von der Wirtschaftskrise in Ängstlichkeit und Unbeweglichkeit treiben lassen, statt sich auf ihre persönliche Krisenkompetenz zu besinnen, dann friert unsere Gesellschaft ein, und wir werden zu ohnmächtigen Opfern, deren Selbstbewusstsein ständig weiter schrumpft. Unsere persönliche Entwicklung ist fest mit der Entwicklung unserer Ge sellschaft verwoben. Und derzeit führt das kollektive Wetteifern um Leistung und Perfektion zu einem immer festeren Würgeknoten: „Wer sich dem Zeitgeist zu sehr anpasst, verliert die Quelle des eigenständigen Denkens“, erklärt die Psychologin Maja Storch, „und eine Gesellschaft, die nur noch aus Angepassten besteht, verliert ihre Innovationskraft.“
Was tun? Man sollte lernen, sein Unbewusstes bewusst zu schützen und zu stärken.
Dabei hilft ein kritischer Blick auf die virtuelle Welt, die uns täglich umgibt. „Das ist ein aktiver Prozess und eine zu erlernende Kompetenz, die man durch Üben erlernen kann. Genauso wie Klavierspielen“, erklärt Storch. Das funktioniert, indem man sich angewöhnt, bei jedem Bild, Blog, bei Informationen aus Internet und Fernsehen zu fragen: Ist das die Wahrheit? Habe ich Ähnliches schon einmal im realen Leben gesehen? Passt das, was da gesagt wird, zu meinen Werten? Häufig wird man bei dieser Prüfung feststellen, dass das meiste, was man in der virtuellen Welt sieht, unterhaltenden, aber wenig nützlichen Wert hat. Den nächsten Schritt, der das Ich aus der Zeitgeist-Falle führt, beschreibt der Hirnforscher Gerald Hüther so: „Man kann sich das Ich wie ein Haus vorstellen, das vom Fundament der Kinderzeit bis ins Erwachsenenalter immer weiter aufgebaut wird.“ Die meisten Menschen wohnen nun in einem Haus, das auf einem leidlich guten Fundament steht – dem authentischen Ich aus der Kindheit.
Aber mit den Lebensjahren wird das Haus ständig schiefer, weil man regelmäßig gegen die eigenen Überzeugungen handelt, sich für die Ansprüche anderer verbiegt. Die Diskrepanz zwischen dem Leben, das man leben möchte, und dem Leben, das man lebt, wird dabei größer. Um wieder zu sich selbst zu finden, das Haus geradezurichten, „muss man, bildlich gesprochen, in den Keller gehen“, so Hüther. Häufig finden Menschen über ihren Körper am leichtesten den Zugang zu sich selbst und ihrem authentischen Ich. Der Körper bildet die direkte Verbindung zu den Gehirnstrukturen, in denen sich das authentische Selbst unserer Kindheit festgeschrieben hat. Deshalb erlebt man gerade beim Yoga oder Tanzen ein Gefühl von Ganzheit und Sinn. Von diesem Punkt aus kann man weitergehen, seine Gefühle, Gedanken und auch Taten neu sortieren – diesmal im Einklang mit dem authentischen Ich. „Der Mensch spürt in realer Weise, dass er ein Rückgrat hat, das er sich aufrichten und sich aufrecht im Leben bewegen kann.“ Eine Haltung, die das Ich Tag für Tag in seiner unabhängigen, selbstbestimmten Entwicklung stärkt.