Mut zur Ehrlichkeit

Mut zur Ehrlichkeit

Nur wer sich traut, ehrlich zu sich zu sein, kann seine wahren Bedürfnisse erkennen und richtige Entscheidungen treffen, erklärt die Psychologin und Buchautorin Maja Storch.

Der Kopf im Bauch© thinkstock
Der Kopf im Bauch

„Eine Fehlentscheidung ist keine Katastrophe“

Interview mit Maja Storch. Sie hat jahrelang über Entscheidungen geforscht. Heute leitet sie das Institut für Selbstmanagement und Motivation Zürich (ISMZ)

VITAL: Wir müssen ständig Entscheidungen treffen, was sich oft als ziemlich stressig erweist. Was spricht dagegen, sich einfach treiben zu lassen?
MAJA STORCH: Tatsächlich sind diese ganzen Entscheidungen lästig. Und es werden immer mehr: Heutzutage müssen wir zwischen 30 Fernsehprogrammen und 50 Waschmaschinentypen auswählen. Und das sind nur die kleinen Entscheidungen des Alltags. Wichtiger sind die, mit denen wir unser Leben gestalten. Wenn wir nicht entscheiden, tun es andere, und das wäre fatal. Wir erkennen irgendwann: Das kann doch nicht mein Leben gewesen sein. So empfinden es viele Menschen in der Lebensmitte.

Aber kann man sich wirklich bis 45 durchmogeln, ohne auch nur ein einziges Mal etwas bestimmt zu haben?
Es bedeutet nicht zwingend, dass diese Menschen es vermieden haben, sich zu entscheiden. Sie haben schlichtweg nicht erkannt, wo sie es hätten tun können und müssen. Sie haben die wichtigen Entscheidungen über ihr Leben verpasst. Denn zunächst einmal müssen wir unsere eigenen Bedürfnisse kennen. Und wir müssen den Mut haben, sie durchzusetzen.

Wann sind wir das erste Mal wirklich gefordert, über unser Leben existenziell zu entscheiden?
Das beginnt bei der Berufswahl. Um zu wissen, was ich später einmal machen will, muss ich erkennen, welche Talente ich habe. Ich muss ehrlich zu mir selbst sein und muss mich gut beobachten können. Entsprechend meiner Erkenntnisse muss ich die Weichen stellen, und das können die wenigsten. Sie laufen Trends hinterher, studieren Fächer für Berufe, die sie später gar nicht ausüben können. Diese Menschen haben sich nicht bewusst entschieden, sie sind mit der Masse mitgeschwommen.

Wie erkenne ich das Dilemma?

Was mache ich, wenn ich erkenne, dass meine Identität gar keine eigene ist, sondern eine gesellschaftlich vorgegebene?
Aus dieser übernommenen Identität heraus, so nennt man das, muss ich dringend meine Eigenart entwickeln. Ich muss herausfinden: Was macht mich zum Unikat auf dieser Welt? Ich muss ausbrechen aus meiner Reihenhaus-Existenz, in der mein Leben dem des Nachbarn bis ins Detail gleicht. Viele Menschen sind mit ihrer Mainstream-Existenz glücklich. Manche aber stürzt das sehr spät in eine tiefe Krise.

Wie erkenne ich dieses Dilemma rechtzeitig?
Das Handwerkszeug dazu sollte schon jungen Menschen gegeben werden. Uns unterscheidet vom Tier, dass wir über uns selbst nachdenken können. Schon mit zwölf Jahren etwa kann man Kindern beibringen, sich selbst zu beobachten und daraus die richtigen Schlüsse zu ziehen. Das erfordert vor allem Mut und Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten.

Manche Menschen schieben Entscheidungen tage- oder wochenlang vor sich her. Wie viel Zeit sollte man sich denn in der Regel nehmen?
Das hängt natürlich von der Sache ab. Wir haben zwei Bewertungssysteme. Das eine ist der Verstand, das andere das Bauchgefühl, das sogenannte System der somatischen Marker, das man auch in Herz, Hals oder Nacken wahrnehmen kann. Es heißt deswegen auch Körpersignal. Eine gute Entscheidung hat man getroffen, wenn beide Systeme synchronisiert wurden. Das Körpersignal meldet innerhalb von 200 Millisekunden eine Entscheidung. Der Verstand aber arbeitet langsam. Der kann auch mal ein paar Tage brauchen. Und anschließend habe ich noch das Problem, beide Systeme in Einklang zu bringen. Für einen Waschmaschinenkauf kann das ein, zwei Tage dauern. Für die Studienfachwahl oder einen Berufswechsel auch mal ein Vierteljahr.

Gibt es Situationen, in denen man aus dem Bauchgefühl heraus entscheiden muss, weil für den Verstand keine Zeit bleibt?
Die somatischen Marker sind immer dann gefragt und dürfen allein entscheiden, wenn Gefahr im Verzug ist. Viele Menschen entwickeln das sogenannte Bauchdenken, das Erfahrungswissen. Sie habe ein bestimmtes Wissen so sehr verinnerlicht, dass sie den Verstand nicht bemühen müssen. Ein Feuerwehrmann mit langer Berufserfahrung weiß, was es bedeutet, wenn in einem brennenden Haus das Gebälk knackt. Er hat ein prall gefüttertes Erfahrungsgedächtnis – im Gegensatz zum Anfänger, der seinem Bauchdenken noch nicht trauen kann. Ein Experte auf einem bestimmten Gebiet kann blitzschnell entscheiden, ein Neuling braucht seinen Verstand und dann entsprechend länger. Er muss sein Erfahrungsgedächtnis erst anfüttern und so lange gegebenenfalls Erfahrungen von fremden Gehirnen abrufen.

Die große Sorge vieler zögerlicher Menschen ist, die falsche Entscheidung zu treffen, sie haben Angst vor den Konsequenzen. Wie löst man das? Diese Menschen müssen lernen, dass eine Fehlentscheidung keine Katastrophe bedeutet. Man muss lediglich bereit sein, sie rückgängig zu machen. Manche Leute aber halten an ihrer Fehlentscheidung fest, weil sie sich nicht eingestehen können, dass es ein Fehler war. Dabei kann man aus falschen Entscheidungen lernen und stark werden. Ich rate den Menschen, sich im Vorfeld bei schwierigen Entscheidungen die Katastrophenfrage zu stellen: Was ist das Schlimmste, das passieren kann? Dann bewerte ich, ob ich damit leben kann, oder ob mir der maximale Preis, den ich für dieses Risiko zahle, zu hoch erscheint.

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