
Die Szene ist kaum zu ertragen. Albert, Herzog von York und zweitältester Sohn von Georg V., König von England, soll 1925 im voll besetzten Wembley-Stadion eine Rede zum Abschluss der British Empire Exhibition halten. Vor ihm steht das Mikrofon der BBC. Eine rote Lampe signalisiert: live! Alle gucken ihn an, die Nation wartet. „Seine Majestät, der K ... K ... K ...“ – „König!“, möchte man für den großartigen Albert-Darsteller Colin Firth ins Mikro rufen. Denn er schafft es nicht. Stattdessen wird sein qualvolles Stottern übertragen. Dann fängt es an zu regnen. Der Himmel über London weint.
So beginnt „The King’s Speech“. Vier Oscars gewann der britische Film in Hollywood. Als Kathleen Roijen ihn Anfang des Jahres im Kino sah, musste sie weinen. „Ich konnte mich da sofort hineinfühlen“, erzählt die 40-Jährige begeistert. „Ich glaube, wir haben alle geweint.“ Wir, das sind sie und die fünf anderen Mitglieder ihrer Selbsthilfegruppe für Stotterer in Goch an der deutsch-niederländischen Grenze. „Danach hatten wir viele Anfragen“, sagt Kathleen Roijen zufrieden. „Auch im privaten Umfeld wollten plötzlich viele wissen: ,War’s bei dir auch so?‘.“ Endlich war Stottern mal Thema. Frank Tasch aus der Nähe von Frankfurt am Main besitzt seinen eigenen Film. Aufgenommen wurde er vor einigen Jahren, als er mit einer sogenannten Van-Riper-Therapie begann. Äußerlich wirkt er entspannt. Er soll etwas sagen, holt Luft. Doch was dann kommt, ist nur ein undefinierbarer Laut. Minutenlang. Mehrere Male setzt Frank Tasch an. „Damals brauchte ich für drei Worte manchmal fünf Minuten“, erzählt er und schaltet den Videorekorder ab. Heute spricht der 35-Jährige fast symptomfrei, leitet als Dirigent mehrere Orchester und bildet Schüler an verschiedenen Blasinstrumenten aus.
„Es gibt genug andere Musiklehrer“, sagt seine Frau Claudia stolz. „Aber Frank wird angerufen. Er muss also gut sein. Auch mit Stottern.“ Sie stottert auch. „Im Moment bin ich nicht so flüssig“, sagt sie. Dabei dauert es nur unmerklich länger, bis das „F“ ihre Lippen verlassen hat. „Liegt am Schlafmangel.“ Moritz, jüngstes Mitglied der Familie Tasch, ist erst 16 Monate alt. „Früher habe ich mir bei Blockierungen manchmal die Zunge blutig gebissen“, erzählt sie dann. „Bei der Arbeit achte ich aber darauf, möglichst alle Stottersymptome zu verflüssigen.“ Claudia Tasch ist Logopädin.
Logopädin? Der Reporter fühlt sich ertappt. Mitten im Interview. Peinlich. Dieser Moment, in dem einem schlagartig klar wird, dass man einen Menschen völlig falsch eingeschätzt hat. Das passierte auch, als Kathleen Roijen erzählte, dass sie fließend Englisch spricht und dann mit dem „R“ die gleichen Probleme hat wie im Deutschen. Und als Frank Tasch von „seiner“ Musik berichtete. Jetzt schon wieder: ausgerechnet Logopädin. Wie ein Kartenhaus stürzt die eigene vage Vorstellung, wie es wohl sein mag, ein Stotterer zu sein, in sich zusammen.
Jana Pflughoft kennt das. Die Diplom-Pädagogin arbeitet am Institut für Sonderpädagogik der Leibniz Universität Hannover und bildet dort zukünftige Sprachtherapeuten aus. „Ich rede mit den Studenten auch darüber, was das Stottern in ihnen auslöst“, sagt die 31-Jährige. „Trifft ein Normalsprecher einen Stotterer, empfinden das natürlich beide als unangenehme Situation.“ Fange jedoch der eine an, Sätze zu beenden, die der andere scheinbar nicht aussprechen kann, entspanne sich die Lage keineswegs. „Erstens, weil es nicht immer richtig ist, was ich für den Stotterer sage. Zweitens, weil dadurch der Reaktions- und Zeitdruck für den Stotterer noch zunimmt“, erläutert die Expertin. „Solche ,Fehler’ passieren, weil dem Normalsprecher der Stotterer leidtut. Er möchte ihm helfen.“
Gut gemeinte Hilfe erklärt jedoch nicht alles, weiß auch Jana Pflughoft. „Es kursieren noch immer viele Vorurteile. Stotterer gelten als weniger intelligent und psychisch angeschlagen. Viele spüren, dass sie mehr leisten und sich neben Normalsprechern immer wieder beweisen müssen“, sagt sie. „Wir leben eben in einer sehr stark verbal geprägten Gesellschaft. Daraus ergibt sich für Stotterer eine grundsätzliche Benachteiligung.“ Dass Forscher in aller Welt bislang nicht erklären können, wo die Ursachen dieser Sprechstörung liegen, an der mehr als 800 000 Deutsche leiden, macht die Sache nicht einfacher, sondern lässt viel Raum für Spekulationen und krude Theorien.
Unübersichtliche Therapieangebote
Viele versprechen den schnellen Erfolg Fest steht: Lernen Kinder sprechen, treten bei fünf Prozent Phasen des Stotterns auf. Bei den meisten verschwinden sie wieder. Nur eines von 100 Kindern stottert weiter. „Etwa die Hälfte der Fälle beginnt in dieser Phase zwischen dem dritten und vierten Lebensjahr“, sagt Jana Pflughoft. Bis zum zwölften Lebensjahr kommen weitere hinzu. Warum – unklar. Hirnscans zeigen ferner, dass bei Stotterern beim Sprechen andere Areale aktiv sind als bei Nichtstotterern. „Niemand weiß aber, ob eine von Geburt an andere Hirnaktivität das Stottern auslöst oder ob sich umgekehrt das Gehirn im Laufe der Zeit an das Stottern anpasst“, so Pflughoft. Ein Blick auf die Gene hilft auch nicht weiter: Ja, es findet sich eine genetische Komponente, aber kein echtes „Stotter-Gen“.
Entsprechend unübersichtlich ist das Therapieangebot. Unzählige Anbieter buhlen um die Gunst – und das Geld – der Betroffenen, denn je größer deren Leidensdruck, desto stärker hoffen sie auf den schnellen Erfolg, den viele Behandlungszentren versprechen. „Mit Anfang 30 fuhr ich zu einer Therapie nach Amsterdam“, erinnert sich Martina Pansegrau aus Itzehoe in Schleswig-Holstein. „Es hieß, dass man innerhalb von zehn Tagen nicht mehr stottert.“ Was hat sie dort gelernt? „Singen“, sagt die 51-Jährige und lacht bitter. „Wenn man singt, stottert man nicht. Aber ist das alltagstauglich?“ Sie antwortet sich selbst: „Vollkommener Schwachsinn.“

Frank Tasch bekam von einer Logopädin den Rat, rhythmisch zu sprechen und dabei im Takt mit den Fingern auf den Tisch zu klopfen. „Damit kriegst du natürlich jeden Stotterer kurz flüssig“, sagt der zweifache Vater, „aber im Alltag ist es unbrauchbar. Das ist doch Scharlatanerie.“ Seine Frau Claudia und Kathleen Roijen, die wie er in der DDR aufwuchsen, schickte man bereits in der Grundschule zu einer dreimonatigen „Stotter-Kur“ ins Erzgebirge. Mutterseelenallein. Das Behandlungskonzept kam aus der Sowjetunion, dem „Bruderstaat“. Kritik war also unangebracht. „In der ersten Woche galt ein absolutes Redeverbot. Wer dagegen verstieß, sollte angeschwärzt werden. Es hing ein Zettel mit allen Namen im Schlafsaal“, erinnert sich Claudia Tasch. „Und wir bekamen Haloperidol.“ Ein hochpotentes Medikament, das in der Psychiatrie gegen Psychosen und Wahnvorstellungen eingesetzt wird.
Seitdem hat sich vieles verändert. Doch noch immer werden Therapien angeboten, Strohhalme, an die sich Betroffene klammern, die den Alltagstest nicht bestehen. „Das macht viele Stotterer misstrauisch“, sagt Jana Pflughoft, „sie haben genug von wirkungslosen Methoden.“ So mancher Behandler deutet das als geringe Therapiebereitschaft. Jana Pflughoft vertritt da eine eindeutige Meinung. „Wer Heilung innerhalb kürzester Zeit verspricht, kann nicht seriös arbeiten.“
Seit elf Jahren bietet ihr Institut jeden August ein Sommercamp für stotternde Jugendliche und Erwachsene an. „Wir entwickeln unser Konzept kontinuierlich weiter“, sagt Pflughoft, „es bezieht alle Ebenen des Stotterns ein.“ Die Teilnehmer arbeiten intensiv an ihrer Sprechmotorik, klären Ängste, Schamgefühle und üben, offen mit dem Stottern umzugehen. „Auch das Selbstbild der Betroffenen spielt eine wichtige Rolle, die kognitive Ebene: Wie bewerten sie ihr Stottern? Haben sie sich deshalb sozial zurückgezogen?“, zählt Pflughoft auf. „Die Camp-Teilnehmer sollen ihr Stottern akzeptieren und lernen, es selbst zu modifizieren. Wir sagen: ,Sei dein eigener Therapeut!"
Zehn Tage dauert das Sommercamp. Ein paar Monate später folgt eine fünftägige „Auffrischung“. Viele Stotterer kämen mehrmals mit, erzählt Pflughoft. „Wir begleiten sie durch verschiedene Lebensphasen.“ Sie hat erlebt, wie Camp-Teilnehmer anschließend neue Wege gingen. Plötzlich wurden sie, was sie im Stillen immer werden wollten. Eben Musiker. Oder Logopädin. Und vielleicht wird wieder einmal jemand König. Wie Albert, Herzog von York, besser bekannt als Georg VI. von England.

Das „R“ – ausgerechnet. „Damit habe ich die meisten Probleme. Und das bei meinem Nachnamen“, sagt Kathleen Roijen und lacht. Auch „L“ und „I“ kommen ihr nicht jeden Tag mühelos über die Lippen. „Es reicht schon, dass ich verschlafe“, erzählt die 40-Jährige. „Dann fühle ich mich nicht gut und stottere mehr.“ Auch Stress führt dazu, dass ihre Atemwege und der Mund verkrampfen.
„Ich weiß genau, was ich sagen will, wiederhole mich aber nur zigmal.“ Das ärgert sie. „Und dann stottere ich noch mehr, weil ich mich selbst unter Druck setze.“ Als sie für die Firma Englisch lernen sollte, war es besonders schlimm. „Im Kurs ging mir alles nicht schnell genug – gar nicht gut.“ Sie musste nochmal zu einer Logopädin. „Trotzdem waren die ersten Gespräche auf Englisch die Hölle“, sagt sie. Ein Erlebnis ist ihr besonders negativ in Erinnerung: jene Personalleiterin, die zu ihr sagte: „Ich kann Sie ja nicht mal ans Telefon lassen.“ Den Job bekam sie trotzdem. „Weil ich jeden Tag telefonisch nachhakte“, erzählt die heutige Controllerin trotzig. „Ich half sogar in der Telefonzentrale aus.“ Aus ihrer Selbsthilfegruppe kennt sie viel schlimmere Fälle. „Die ärgern mich maßlos! Stotterer sind Gesprächspartner wie jeder andere auch.“
Claudia und Frank Tasch
Das erste Treffen von Claudia und Frank Tasch verlief nicht gerade vielversprechend. „Wir hatten beide eine Therapie bei dem bekannten Hamburger Logopäden Andreas Starke gemacht und gingen zu einem Ehemaligen-Treffen“, erzählt Frank. Und sie: „Ich kam mit meinem Freund, wir hatten uns gerade gestritten. Und über Franks Art zu stottern habe ich gelacht.“ Ironisch fügt Claudia hinzu: „So haben wir bei der Partnerwahl vom Stottern profitiert.“ Klar, es hat ihre Biografien geprägt. Frank litt lange unter dem Gefühl, dass es ihm den Lebensweg verbaut. „Du erkennst deine Fähigkeiten gar nicht“, sagt der gelernte Zimmerer. Musik half ihm. „Damit konnte ich immer glänzen.“ Er wurde Dirigent und Musiklehrer. Erzählt er jetzt davon, stottert er kein bisschen. Claudia fühlte sich weniger beeinträchtigt. „Ich wurde sehr selbstbewusst erzogen“, sagt sie. „Im Klassenbuch stand oft: Ihr Reden stört den Unterricht.“ Doch auch sie erlebte, dass man ihr wenig zutraut, weil sie stottert. Zuletzt, als sie sich entschied, Logopädin zu werden. „Aber davon habe ich mich nie beirren lassen.“ Stottern liegt auch in den Genen. War das ein Thema, bevor die Söhne Jakob und Moritz kamen? „Nein“, sagt Frank, „das ist ja keine schlimme Krankheit. Wir beide wissen genau, was man dann tun kann.“ Jakob holperte nur kurz. Claudia machte ihm vor, wie man weich spricht. Moritz ist noch klein. Aber ein Wort kann er natürlich schon: „Mama!“

Spielend flüssig sprechen
Das Institut der Kasseler Stottertherapie im nordhessischen Bad Emstal hat ein spezielles Programm für Smartphones entwickelt. Diese App soll die klassische Therapie ergänzen und vor allem Kinder darin unterstützen, flüssiger zu sprechen. In dem Spiel muss das Raumschiff FLUXXY Sternengold einsammeln, ohne mit Asteroiden und Ungeheuern zu kollidieren. Der Clou: Es wird per Stimme gesteuert, die so quasi nebenbei trainiert wird. Infos zum kostenlosen Download unter kasseler-stottertherapie. de/fluxxy.