
Wir schreiben das Jahr 1975. Ganz Deutschland ist von lila Fellwesten im Yeti-Stil, orangefarbenen Plateau-Clogs und knallgelben Hotpants besetzt. Ganz Deutschland? Nein: Eine Mutter im Südbadischen leistet erbittert Widerstand gegen Kleidung, die aussieht, als hätten Kindergartenkinder bewusstseins-erweiternde Drogen genommen. Eines Tages wünscht sich ihre fünfjährige Tochter eine absinth-farbene Polyesterhose. Die Mutter kauft ihr stattdessen eine Latzhose aus Tweed mit Salz-und-Pfeffer-Muster. Praktisch, gutes Material, kein alberner Schlag, und ein dezentes Grün ist auch mit drin. Die Tochter ist am Boden zerstört. Die Tochter heißt Verena.
Mutti ist nicht an allem schuld, nein. Ich verdanke ihr eine Menge, von schönen Schneidezähnen bis zu meinem zeitlosen Vornamen. Aber das mit den coolen Klamotten, das hat sie nie begriffen. Besser gesagt: Dazu hat sie zu viel Stil. Schon immer gehabt.
Mode und ich, wir hatten keinen guten Start. Entweder waren meine Sachen zu klassisch, um trendy zu sein – siehe das Hosen-Debakel –, oder ich hatte die falschen Stil-Ikonen. Mit zehn oder elf war Reinhard Mey mein Fashion-Vorbild. Aber Cowboystiefel allein lassen eine blonde Sechstklässlerin nicht aussehen wie einen zerknitterten Chansonnier. Fünf Jahre später wurde ich stolze Besitzerin eines Paars schwarzer Pseudo-Schlangenlederschuhe mit unglaublich vielen Schnallen. Bei den anderen „The Cure“-Fans konnte ich damit trotzdem keinen Blumentopf gewinnen. Vermutlich, weil ich die eiscremefarbenen T-Shirts vom Vorjahr dazu trug statt eines bodenlangen Mantels.
Alles hätte sich ändern können, als ich zu Beginn des Jahrtausends bei einer großen Frauenzeitschrift arbeitete. Doch es änderte sich nichts. Dabei mangelte es nicht an Vorbildern. Die Damen aus dem Mode-Ressort trabten schon mal mit halb abgetrennten Blazer-Ärmeln zur Mittwochskonferenz, die nackten Arme neckisch durch die Löcher gesteckt. Manchmal bekam ich tatsächlich Komplimente. Aber die verwirrten mich, weil sie immer zur Unzeit kamen. „Wow“, flüsterte eine Kollegin angesichts eines fleckigen Wildlederjacketts, „ist das Vintage?“, „Nee“, murmelte ich irritiert, „das ist nur oll.“ Ich ärgere mich bis heute, dass ich nicht schnell eine Geschichte von einem ultrahippen Pariser Flohmarkt erfunden habe. Wieder ein paar Jahre später wurde ich Mutter und stellte mit heimlicher Erleichterung fest, dass ich damit erst einmal raus war aus dem Modespiel. Maxi-Rock und Maxi-Cosi-Tragschale passen nämlich nicht zusammen. Man tritt sich beim Treppensteigen den Saum kaputt, und Handtaschen hängen beim Kinderwagenschieben am Handgelenk statt auf der Schulter. Das ist nicht neo-punk, sondern einfach nur unpraktisch.
Mittlerweile ist der Kinderwagen oll (besser gesagt: Vintage), meine Tochter alt genug für absinthgrüne Schlaghosen, und kurz nach meinem 40. Geburtstag ist etwas mit mir passiert. Etwas Seltsames. Ich ziehe einfach an, was ich will und was mir steht, was meine kurzen Beine ein bisschen länger aussehen lässt und mir gute Laune macht. Und es ist mir egal, ob ich cool aussehe oder retro oder crossover, wie von gestern, wie von heute oder einfach wie ich selbst.
Neulich habe ich Mutti, 71, gefragt, was das eigentlich für eine Mode ist. Sie hat gesagt, es gebe ein Wort dafür: Stil.