
Die Welt steht kopf. Jeden Mittwoch abend gegen 20.30 Uhr. Dann kauern etwa 15 Frauen auf blauen Matten, formen die Hände zu einer Schale für den Kopf und strecken ihren Po in die Höhe. Pos in allen Formen und Größen: Apfel und Birne, „Size Zero“ und „Mode für Mollige“, yoga-stilecht in weißer Schlabberhose verpackt oder pragmatisch in seitlich gestreifter Trainingskluft. Aber alle haben nur das eine Ziel: Shirshasana, den yogischen Kopfstand.
Im Moment des Po-Hochstreckens sind wir noch alle gleich. Ab dem Moment des Beine-Hochwerfens sehr verschieden. Manche keuchen. Manche kichern. Manche folgen mehlsackartig den Gesetzen der Schwerkraft. Einige resignieren. Wenige triumphieren. Nur einer tut das alles nicht: Christian. Der einzige Mann in unserer Gruppe. Christian keucht nicht. Er kichert nicht. Er wackelt auch nicht hilfesuchend mit dem Po. Er stellt sich einfach auf den Kopf, ähnlich nonchalant, wie andere Leute sich am Kopf kratzen. Es ist eine Frechheit. Und es ist typisch. In den vergangenen zehn Jahren habe ich höchst unterschiedliche Yogastunden an höchst unterschiedlichen Orten hinter mich gebracht. In Fitnessstudios mit Energiedrink-Bar, in Seminarhäusern mit Esoterik-Shop (Tagesangebot: Zungenschaber!) und in heimeligen Studios, in denen der Lehrer nach der Stunde selbst gebackenes Bananenbrot reicht. Überall das gleiche Bild: 95 Prozent Frauen, von jung bis alt, von hip bis bieder – dazu ein bis zwei Männer. Und immer die gleichen ein bis zwei Typen.
Typ Christian: attraktiv, sehnig-muskulös – nicht etwa auf diese sonnengebräunte Surfer-Weise, sondern so, als stemmte er täglich schwergewichtige Bände mit yogischen Weisheitsschriften. Ich kann es nicht beweisen, bin aber überzeugt: Er übte fünf Jahre lang allein vor dem Spiegel, bevor er sich unter Frauen begab. Hahn im Korb? Besser: Kobra im Korb. Er kann alles, sogar singen.
Typ Nummer zwei ist der Gegenentwurf, nennen wir ihn Klaus-Jürgen. Klaus-Jürgen schwitzt schon beim Anblick einer Yogamatte, und er zeigt Fußsohlen mit einer Hornhaut, die mehreren Fußpflegern ein geregeltes Jahreseinkommen sichern würde. Er kann nicht singen und ist etwa so gelenkig wie ein alternder englischer Butler. Dass die beiden oft im Doppelpack auftreten, nährt meinen Verdacht: Christian bringt Klaus-Jürgen absichtlich mit, um seinen Astralleib noch imposanter in Szene setzen zu können. Der Kontrast könnte nicht größer sein. Dazwischen klafft im Ästhetik-Angebot eine Riesenlücke.
Nun wäre es ein Leichtes, sowohl auf Christian als auch auf Klaus-Jürgen zu verzichten. Jedes Stadtteilzentrum bietet genügend Kurse, in denen Frauen unter sich bleiben. Aber, ganz ehrlich: Dann fehlt mir was. Yoga ohne Männer ist wie Shakti ohne Shiva, wie Yin ohne Yang, wie Sonne ohne Gruß. Ich rolle gern meine Matte neben einem Kerl aus, der aussieht wie Sting vor 20 Jahren, ich lasse mir mein Bananenbrot gern von behaarter Hand brechen.
Außerdem brauche ich die Männer als Ausrede. Schließlich schaffe ich den Kopfstand auch nach fast zehnjähriger Übung nicht. Und wer ist daran schuld? Natürlich die Christians dieser Welt, deren starke Körper meinen schwachen Geist ablenken. Und die Klaus-Jürgens, die beim Begrüßungsmantra immer einen halben Ton daneben liegen. Ansonsten wäre ich wahrscheinlich so erleuchtet, dass ich täglich zwei Stunden kopfstehend meditieren könnte. Om Shanti.