
Wie süß“, dachte ich. „Das ist bestimmt der Papa.“ Da stand ein älterer Herr mit grauem Haarkränzchen in einer herun - tergekommenen Galerie in Hamburg- St. Georg und betrachtete die Bilder eines Nachwuchsmalers. Dessen Lieblingssujet war Sellerie: ganze Knollen, angeschnittene, Sellerie in Schwarz-Weiß und Pastell, Bio-Sellerie und Discounter-Sellerie. Es gab Bier für einen Euro, die Kunst war auch nicht viel teurer, und ich verweilte lange vor jedem Werk. War ja keiner da, außer ein paar Kunststudentenkumpels und dem älteren Herrn.
Woher kenne ich Sie nochmal?
Irgendwann raunte mir jemand andächtig ins Ohr: „Da drüben steht Sigmar Polke.“ Einen der bedeutendsten Vertreter deutscher Gegenwartskunst hatte ich für einen besorgten Vater gehalten, der sich überlegte, wie er seinen minderbegabten Sohn zu einer soliden Beamtenkarriere überreden könnte. Oder wenigstens zu einem Job im Gemüsehandel. Sigmar Polke ist inzwischen verstorben. Aber ich muss jedes Mal an ihn denken, wenn die bedeutendsten Vertreter deutschen Krawall-TVs eine neue Staffel ihres „Dschungelcamps“ ankündigen. Schließlich haben Polke, Nacktschnecke Micaela Schäfer und Danielas Berufsmutti Iris Katzenberger etwas Entscheidendes gemeinsam: irgendwie wahnsinnig berühmt, aber im Gemüseladen erkennen würde ich keinen von ihnen. Sind einfach mittlerweile zu viele singende Nageldesignerinnen und nageldesignende Sän ge rinnen: „Ich will ein Star sein, bringt mich hier rein!“ Nicht einmal meine zehnjährige Nichte kommt da noch mit.
Wir sind alle etwas berühmt heutzutage
So ist das mit dem Rampenlicht in Zeiten der Webcam. Jeder, der mal ein Silvester-Karaoke-Filmchen auf Facebook hochgeladen hat, hält sich für einen aufgehenden Stern. Und wer gar vor laufender TV-Kamera mal einen Satz gesagt hat („Nee, find ich irgendwie nicht gut mit der Um - weltverschmutzung und so …“), lässt sich für alle Fälle einen Stapel Autogrammkarten drucken. Könnte ja sein, dass Stefan Raab den Satz für den nächsten Sommerhit benutzt. Auf der anderen Seite der Berühmtheitsskala hockt ein Künstlervolk im Elfenbeinturm, das jederzeit zum Tanken, zum Arztbesuch oder ins Bord-Bistro herabsteigen kann, ohne von jemandem erkannt zu werden.
Als Martin Walser neulich sein Notizbuch im Zug vergaß, warum ist ihm da keiner hinterhergeeilt? So ist das eben mit der Berühmtheit im Jahr 2013: Wahre Stars bleiben unsichtbar, nur die zweite, dritte, vierte Garde hält ihre Nase ständig in irgendeine Kameralinse. Sigmar Polke konnte unerkannt durch Hamburger Galerien flanieren, Martin Walser darf unbehelligt den Interregio von Konstanz nach Singen besteigen, und wenn der neue Chefdirigent der Münchner Philharmoniker, Lorin Maazel, auf dem Viktualienmarkt ein Pfund Gelbwurst kauft, gerät keine Marktfrau ins Stammeln („Herr Maazel! Darf’s ein Scheibchen mehr sein?“). Ach, übrigens: Mich hat noch nie jemand errötend und mit erhöhtem Puls auf meine VITAL-Kolumnen angesprochen. Oder gar hinter meinem Rücken getuschelt („Sag mal, ist das nicht die Carl? DIE Carl?“). „Dschungelcamp“, Homestory in der „Gala“, Früh stücks - fernsehen: alles ohne mich. Früher habe ich mir deshalb manchmal Sorgen gemacht. Heute weiß ich: Das ist wahre Klasse.