Du und ich

Du und ich

Mit unseren Geschwistern bilden wir eine lebenslange Schicksalsgemeinschaft. Das heißt nicht, dass wir uns immer gut verstehen. Aber: In entscheidenden Momenten tun wir es – und spüren eine besondere Kraft.

Geschwister© Thinkstock
Geschwister
Außenstehende würden diese Kleinigkeiten gar nicht bemerken. Eine hochgezogene Braue zum Beispiel, eine Umarmung, die sich nur ein bisschen weniger innig anfühlt. Ein falsches Wort. Doch das genügt, und alles kommt wieder hoch. Szenen, die Jahrzehnte zurückliegen können, aber noch immer so starke Gefühle auslösen, als wären sie keine 24 Stunden her. Eifersucht auf den großen Bruder, weil er auf dem Familienfest – wie immer! – für seine steile Bank-Karriere gelobt wird. Neid auf die kleine Schwester, die schon zwei Studiengänge abgebrochen hat und nun von Papa auch den dritten bezahlt bekommt. Kalte Ablehnung oder stumme Wut, obwohl wir jene Menschen, die genetisch immerhin zur Hälfte so ausgestattet sind wie wir, ewig nicht gesehen haben. Die Beziehung zu unseren Geschwistern ist nicht nur die längste unseres Lebens, sie kann auch phasenweise die schwierigste sein.

Der Lauf des Lebens

Mädchen in Deutschland ziehen im Schnitt mit etwa 23 Jahren, Jungs mit 25 aus dem Elternhaus in eine eigene Wohnung. Mit anderen Worten: Geschwisterkinder leben lange unter einem Dach und haben entsprechend viel Zeit, sich auf die Nerven zu gehen. „Ich will keine Prozentzahl nennen, aber Geschwisterbeziehungen sind öer belastet als nicht belastet“, sagt Prof. Jürg Frick, psychologischer Berater an der Pädagogischen Hochschule Zürich und Buchautor („Ich mag dich – du nervst mich!“, Huber, 352 Seiten, 29,95 Euro). „Ich staune regelmäßig, wie viele Menschen in meine Kurse kommen, obwohl die primär für Lehrkräfte ausgeschrieben werden. Im weiteren Verlauf zeigt sich dann oft, dass eine ungeklärte Geschwistergeschichte der Grund war, sich anzumelden.“ Natürlich sammelt sich auch in anderen Beziehungen gelegentlich jede Menge Zündstoff an. Freunde werden Feinde. Jede dritte Ehe wird geschieden. Menschen, die in einer Bürgerinitiative für eine Sache kämpfen, bekriegen sich am Ende gegenseitig. Nachbarn feiern zusammen den Sommer und reden irgendwann nur noch über Anwälte miteinander. Mobbende Kollegen zwingen den Neuen im Team schließlich zum Jobwechsel.
Bittere Erfahrungen, die jedoch alle eines gemeinsam haben: Solche Beziehungen suchen wir uns aus. Und wir können sie jederzeit – wenn auch mit einigem Aufwand – beenden. Brüder und Schwestern hingegen setzt uns das Schicksal und die Familienplanung unserer Eltern (die wir auch nicht frei wählen können) vor die Nase. Egal, wie selten wir sie treffen oder wie viele Kilometer uns trennen, sie bleiben unsere Geschwister. „Eine unkündbare Beziehung. Sie bleibt Teil der Identität“, sagt Sandrine Mrosek, Entwicklungspsychologin an der TU Braunschweig. „Auch wenn kein Kontakt besteht, beeinflusst uns das.“ Dass Liebesbeziehungen und Freundschaften enden, fänden heute alle normal. „Erlebe ich aber, dass meine Mitmenschen intakte Geschwisterbeziehungen führen, frage ich mich: Wie steht es bei mir? Warum ist es bei mir anders?“, so die Expertin. „Der gesellschaftliche Druck, dass Geschwister sich nah sein sollten, besteht nach wie vor. Keinen Kontakt zu ihnen zu haben ist etwas Besonderes, nicht der Regelfall, und wird deshalb immer thematisiert. Damit umzugehen fällt nicht leicht.“

Zwischen Eifersucht und Liebe

Insgesamt scheint das Thema Geschwisterbeziehungen in vielen Köpfen noch immer mit großen unbewussten Erwartungen und Klischees verknüpft. Der biblische Kain, der seinen Bruder Abel tötet, spielt darin genauso eine Rolle wie „Hänsel und Gretel“. Kaum eine Vorabendserie kommt ohne das verliebte Paar aus, dass in Folge 352 entsetzt feststellt: In Wahrheit sind wir Geschwister, die nach der Geburt getrennt wurden. Obendrein wird der Erziehungsstil der Eltern von Erfahrungen beeinflusst, die sie mit ihren Brüdern oder Schwestern machen mussten.
Wird in diese Welt nun ein zweites Kind geboren – mehr werden es pro Familie hierzulande laut Statistischem Bundesamt in Wiesbaden immer seltener –, beginnt für das erstgeborene ein Westreit um ein kostbares Gut: Aufmerksamkeit. „Für einen Dreijährigen ist das nicht so leicht zu verstehen“, sagt Prof. Frick. „Plötzlich kommt da ein Neuer, der macht in die Hosen, es stinkt fürchterlich, und die Eltern finden das toll, süß und wunderbar.“ Auf einmal haben Mama und Papa nur noch Zeit für dieses kleine schreiende Bündel. Kein Wunder, dass Psychoanalytiker in diesem Zusammenhang lange Zeit von einem „Entthronungstrauma“ sprachen. Der Begriff ist milerweile überholt. „Aber es bleibt eine Entwicklungsaufgabe“, erklärt Prof. Frick. „Für das erstgeborene Kind. Und für die Eltern.“
Studien zeigen: Je mehr Mama und Papa dem älteren Kind vermitteln, dass es eben nicht die Nummer zwei ist, und ihm altersgerechte Betreuungsaufgaben übertragen, desto reibungsloser verläuft die erste Zeit mit dem neuen Familienmitglied. Schon Einjährige haben dann mit ihren Geschwistern etwa gleich viel Umgang wie mit der Mutter. Drei- bis Fünfjährige verbringen sogar nur noch halb so viel Zeit mit Mama wie mit ihren Brüdern und Schwestern. Also alles eitel Sonnenschein? Keineswegs. Beobachtungen an der Universität von Illinois in den USA zeigten: Zwischen Zwei- bis Vierjährigen kracht es durchschnilich alle zehn Minuten. Drei- bis Siebenjährige geraten drei- bis viermal pro Stunde aneinander.

Jeder Mensch ist einzigartig

Wer hat das schönere Bild gemalt? Wer bekommt das größere Stück Kuchen? Wer darf länger aufbleiben? Wer ist schneller auf dem Klettergerüst? Wer kriegt mehr Taschengeld? Wer muss abends wann zu Hause sein? Es vergeht kein Tag, an dem Geschwister nicht solche „Revierkämpfe“ ausfechten. Im Kern geht es dabei immer um das Gleiche: Nähe und Abstand. Einerseits wollen und sollen sich Geschwisterkinder ähneln, aufeinander aufpassen, miteinander spielen, möglichst gleich gut in der Schule sein und einander Hosen, Pullover oder Gummistiefel vererben. Andererseits wollen und sollen sie sich unterscheiden, individuelle Interessen entwickeln, eigene Ziele verfolgen. „Das ist eine riesige Herausforderung“, sagt Sandrine Mrosek. „Die Eltern nehmen erheblichen Einfluss: Sie erwarten einerseits Nähe, andererseits machen sie Unterschiede, indem sie Geschwistern bestimmte Rollen zuweisen. Den einen zum Beispiel eher als ‚den Ruhigen‘ bezeichnen, den anderen als ‚Draufgänger‘.“ Haben Geschwisterkinder das gleiche Geschlecht und liegen ihre Geburtstage nur zwei bis vier Jahre auseinander, rivalisieren sie am stärksten. Das leuchtet ein: Fast gleich alte Schwestern oder Brüder haben natürlich mehr Berührungspunkte, mehr gemeinsame Lebenswelten als eine 13-jährige Tochter und ein 21-jähriger Sohn. „Besitzt dann ein Geschwisterkind im Vergleich zum anderen überragende Fähigkeiten, ist es besonders attraktiv oder tut es sich in der Schule besonders hervor, kann eine von starker Eifersucht geprägte Nähe entstehen“, erläutert Prof. Frick. Geschwisterkinder sind eben nicht gleich, sondern stimmen allein schon genetisch „nur“ zu 50 Prozent überein. „Für Eltern ist es noch dazu angenehmer, ein ‚erfolgreiches‘ Kind zu haben“, ergänzt Sandrine Mrosek. Schnell komme es dann zu einer Bevorzugung.
Doch von wem? Entweder fördern die stolzen Eltern das „starke“ Kind, das vielleicht die besseren Noten oder ein gesellschalich akzeptierteres Hobby hat. Oder die besorgten Eltern kümmern sich intensiver um das „schwache“ Kind, das in ihren Augen zunehmend auf die schiefe Bahn gerät. Zurück bleibt in beiden Fällen ein neidischer Verlierer im Wettkampf um Aufmerksamkeit. Statt sich voneinander zu lösen, sich zu „de-identifizieren“, wie es in der psychologischen Fachsprache heißt, bleiben die Geschwister im Groll miteinander verbunden. „So eine unvollständige De-Identifikation kann sich auch auf die spätere Geschwisterbeziehung auswirken“, sagt Entwicklungspsychologin Sandrine Mrosek.
„Vielfach bestehen hier auch Missverständnisse“, ergänzt Prof. Jürg Frick. „Zum einen kann jenes Kind, das sich benachteiligt fühlt, das Verhalten der Eltern nicht richtig verstehen. Zum anderen ist es für das andere Kind, das mehr Aufmerksamkeit bekommt, schwierig, sich gegen die Bevorzugung zu wehren.“ Wohin es führen kann, wenn solche Missverständnisse nicht geklärt werden, hat der Experte in einer Radiosendung erlebt. Dort hörte er die Geschichte von zwei Schwestern, die jahrelang keinen Kontakt haen. Dann brauchte eine der Frauen eine Spenderniere. „Ihre Schwester meldete sich und bot sofort ihr Organ an“, erinnert sich Frick. „Das hat die Patientin schier umgehauen. Sie hatte all die Jahre geglaubt, dass ihre Schwester nichts mit ihr zu tun haben will. Jetzt haben die beiden ein sehr enges Verhältnis.“ Bei erwachsenen Geschwistern, die nur einmal im Jahr telefonieren oder sich höchstens zu Weihnachten sehen, muss also kein unüberwindbarer Konflikt dahinterstecken. Manchmal sind es die berühmten Mücken, die zu Elefanten anschwellen, weil nie ein klärendes Gespräch stattfindet. Für Ehen in der Krise stehen Paartherapeuten bereit, einen Streit unter Kollegen kann ein guter Chef oder ein Coach schlichten. Entsprechende Angebote für Geschwister existieren kaum.

Eine Freundschaft ist viel wert

Den weitaus häufigsten Grund, der Geschwister voneinander trennt, sieht die Forschung jedoch woanders: das ganz normale (Berufs-)Leben. Ausbildung oder Studium im Ausland, Jobwechsel, Partnerwahl, eine eigene Familie gründen – all das erzeugt Abstand. Und immer mehr Studien sprechen dafür, dass Brüder und Schwestern umso mehr an Bedeutung für unsere Entwicklung verlieren, je mehr wichtige Bezugspersonen außerhalb der Familie in unser Leben treten. „Belastete oder fehlende Geschwisterbeziehungen können durch gute Freundschaften aufgefangen werden“, betont Sandrine Mrosek. „Umgekehrt gilt das aber nicht: Geschwister ersetzen keine Freunde.“ Insofern müssten sich auch Einzelkinder keine Sorgen machen. Die Expertin lacht. „Ich bin Einzelkind und habe mich, glaube ich, ganz gut entwickelt.
Viele ältere Untersuchungen wollten beweisen, dass allein die Zahl der Geschwister, der Altersabstand, der Geschlechter-Mix unter den Kindern oder die Geschwisterposition lebenslangen Zündstoff bergen. Erstgeborene und Nesthäkchen etwa galten als verwöhnt, sogenannte „Sandwichkinder“ als besonders gefährdet. All das trift nicht zu. „Keine der vorliegenden Studien belegt, dass sich eine bestimmte Geschwisterposition günstiger oder ungünstiger auswirkt“, sagt Prof. Frick. „Entscheidender ist der Gesamtkontext und wie das Kind ihn wahrnimmt und bewertet.“ Sandrine Mrosek sieht das ähnlich. „Entwicklung ist ein dynamischer Prozess“, sagt sie. „Ja, die Geschwisterbeziehung prägt uns, aber ganz sicher nicht als einziger Faktor.“
Irgendwie beruhigend. Wir müssen also kein schlechtes Gewissen haben, wenn unser Verhältnis zur Schwester oder zum Bruder nicht das beste ist. „Nur weil zwei Menschen Geschwister sind, bedeutet das nicht, dass sie sich lieben müssen“, stellt Sandrine Mrosek klar. „Geschwister müssen nicht miteinander klarkommen. Keinen oder wenig Kontakt zu haben, stellt kein Problem dar, wenn die Beziehung damit geklärt ist.“

Wir halten für immer zusammen

Ob das der Fall ist, zeigt sich häufig bei sogenannten kritischen Lebensereignissen. Werden die Eltern pflegebedürig, sterben sie und muss das Erbe aufgeteilt werden, müssen die Kinder gemeinsam handeln. „Solchen Aufgaben können Geschwister nur schwer ausweichen“, sagt Prof. Frick. „Dann kommt es darauf an, dass sie sich mit Offenheit und möglichst ohne Vorbehalte wiederbegegnen. Interesse für das Leben des anderen zeigen und sich darüber austauschen, wie er oder sie die Familiensituation wahrgenommen und bewertet hat. Das formt eine gute Basis für einen Neuanfang.“ Gelingt er, kann daraus große Kraft erwachsen. Muss aber nicht. Auf jeden Fall hilft ein offener Umgang, sich bewusst zu machen, dass jedes Treffen natürlich Kindheitserinnerungen weckt. Das ist normal – aber das Ereignis lange her! Vieles ist seitdem passiert. Und plötzlich wirkt die hochgezogene Augenbraue gar nicht mehr boshaft, die Umarmung der Schwester fühlt sich richtig gut an. „In jedem Konflikt“, ermutigt Sandrine Mrosek, „steckt auch eine Chance.“
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