
Zwischen Mecklenburger Seenplatte und Ostseeküste, irgendwo im platten Niemandsland inmitten von Feldern, Wiesen und Wäldern, führt eine schmale Stichstraße nach Lüchow: ein Dorf mit 19 verstreuten Häusern. Keine Bars, kein Kino. Für manche ein Kaff, für Marie-Theres Liess der wahr gewordene Traum von Bullerbü: „Durchatmen können, vor die Tür treten und auf der Wiese stehen, das ist für mich wahre Lebensqualität.“
Die 44-jährige Bauingenieurin zog vor acht Jahren mit ihrer Familie nach Lüchow. „Damals lebten hier nur noch vier Rentner in drei Häusern.“ Viel zu wenige, fanden Marie-Theres Liess und ihr Mann Johannes, ein Architekt. Sie entwickelten einen Rettungsplan für das Dorf. Kernstück: Mehr Leute müssen her. Mit Kindern. Und Kinder brauchen eine Schule. In der sie lernen und Freunde treffen können.
Eine Schule als Lebensmittelpunkt einer Dorfgemeinschaft. Wo man sich gegenseitig unterstützt, in Mehrgenerationenhäusern wohnt, Feste feiert. Ein Ort, an dem man bleiben will. „Vorher sind wir so oft umgezogen, dass ich es kaum zählen kann. Es zehrte an den Kräften. Wir hatten die Vision eines autarken Dorfes, das sich selbst versorgt und in dem der Gemeinschaftsgedanke im Vordergrund steht“, erzählt Marie-Theres Liess. Nach Stationen in Berlin, Kassel, Wien und Mexiko will die Familie endlich ankommen. Sie rühren die Werbetrommel für Lüchow, erzählen Freunden von ihren Plänen, schalten Anzeigen, organisieren Informationsabende.
Und das kleine Wunder geschieht: Zehn Familien ziehen nach Lüchow, gründen einen Trägerverein, beantragen die Genehmigung für eine Schule mit waldorf pädagogischer Prägung. 2006 sitzen die ersten vier Kinder auf einer Schulbank. 2008 wird das rosafarbene Schulgebäude eingeweiht. Das Grundstück hat ihnen ein Bauer geschenkt, finanziert wurde der Bau durch Eigenmittel, Spenden und Zuschüsse vom Landwirtschaftsministerium und der Europäischen Union.
Heute wohnen schon 20 Erwachsene und 20 Kinder in Lüchow. Ruhig ist es immer noch. „Wenn hier mal drei Autos hintereinander durch das Dorf schleichen, reden wir von einem hohen Verkehrsaufkommen“, sagt Marie-Theres Liess lachend. Ihre Kinder Michael, Thomas, Alma und Fabian, alle zwischen fünf und elf, können im Grünen toben. Sie halten Kaninchen, spielen mit den Nachbarskindern. Eine heile Welt.
Bis Februar 2011. Dem Kultusministerium von Mecklenburg- Vorpommern scheint die Idylle suspekt. Es zweifelt die Qualifikation der Lehrer an, entzieht der Schule die Genehmigung, der Unterricht muss ruhen. Ein herber Rückschlag. Doch das Ehepaar Liess kämpft, legt Widerspruch beim Verwaltungsgericht Schwerin ein. Die Entscheidung über die Zukunft der „Landschule Lüchow“ fällt in diesem Sommer. An der Vision einer Dorfgemeinschaft halten die Liess’ fest. Die beiden denken auch an einen Biobauernhof, Solarstrom, ein kleines Hotel, eine Taverne. Irgendwann. Es bleibt noch viel zu tun in Lüchow.