
Manchmal kommt uns unser Leben vor wie ein schmaler Grat, wirkt ein Problem wie ein unbezwingbarer Berg. Wir kennen alle ein Tal der Tränen und Wut, die brodelt wie Lava. Wir bauen anderen eine Brücke, könnten gelegentlich Bäume ausreißen. Und wir alle kennen Momente, wo sich die Einsamkeit anfühlt wie eine verlassene Insel oder eine Wüste. Um Gedanken und Gefühle auszudrücken, verknüpfen wir sie oft ganz selbstverständlich mit Landschaften oder Orten. Umgekehrt lösen intensive Bilder oder Beschreibungen von „magischen“ Wäldern, Gebirgen oder Küsten sofort diffuse Emotionen in uns aus. Vielleicht, weil unsere Vorfahren jahrtausendelang in Landschaften „lesen“ mussten, um zu überleben – ein uralter Teil unserer Psyche. „In uns allen gibt es von unseren Gefühlen und Gedanken geschaffene Seelenlandschaften“, bestätigt die psychologische Beraterin Colette Baron-Reid aus den USA.
„Das Feld der Stürme etwa, auf dem es uns umtreibt, wenn wir uns angegriffen fühlen. Oder der stickige Sumpf, in den wir hineingezogen werden, wenn die Last unserer Aufgaben uns niederdrückt.“ Genauso verzeichnet die Landkarte unserer Seele Orte, die uns Kraft und Trost spenden können. „All das, was Sie sind, waren oder sein könnten, wird darauf dargestellt“, erklärt Colette Baron-Reid („The Map“, MensSana, 352 Seiten, 19,99 Euro).
Wer das zu esoterisch findet, hat vielleicht in Wahrheit andere Vorbehalte. „Den Versuch zu wagen, einen Blick auf sich selbst zu werfen, und damit zuzulassen, dass wir etwas aus unserer Innenwelt zur Kenntnis nehmen müssen, das uns eventuell zunächst erschreckt, erfordert Mut, Kraft und Überwindung“, sagt Prof. Michael Bordt von der Hochschule für Philosophie in München (mehr in „Die Kunst, sich selbst auszuhalten“, Zabert Sandmann, 96 Seiten, 8,95 Euro). „Nicht selten führt diese Angst dazu, jede Beschäftigung mit sich selbst suspekt zu finden.“
Auf die innere Stimme hören
Die Idee, dass wir unsere Innenwelt betreten können wie ein mutiger Entdecker, nimmt uns die Angst. Der spielerische Prozess bringt Spaß und erzeugt obendrein jenen gedanklichen Abstand, den wir brauchen, um auch unangenehme Persönlichkeitsanteile annehmen und wertschätzen zu können. „Die Sprache der Symbolik erlaubt uns den Zugang zu Erlebnisschichten, die im Unterbewusstsein gespeichert sind und dem Alltagsbewusstsein oft verborgen bleiben“, erklärt Colette Baron-Reid. Der Clou: „Die Landkarte Ihrer Seele verwandelt sich automatisch mit, sobald Sie sich verwandeln. Ein neuer Blickwinkel, eine veränderte Wahrnehmung genügen.“ Je genauer wir also unsere Seelenlandschaften erkunden, desto besser verstehen wir jene Gedanken und Gefühle, für die sie stehen. Uns wird klar, welche Situationen oder Mitmenschen uns stets in die gleiche Landschaft „beamen“. „Je hartnäckiger wir versuchen, ihr zu entkommen, desto mas- siver finden wir uns in sie zurückgeworfen“, so Colette Baron-Reid. „Wir müssen lernen, mit der Landschaft unseren Frieden zu machen, die wir gerade bewohnen.“
Dazu gehört auch, sich klarzumachen, dass wir in unseren Seelenlandschaften nie allein sind. Was immer wir tun oder entscheiden (müssen), stets geben verschiedene innere Stimmen ungefragt ihren Senf dazu. Solange wir am Ende selbstbewusst als Sieger vom Platz gehen, ist daran nichts auszusetzen. Rauben uns aber bestimmte innere Stimmen den Schlaf, lösen sie Ängste oder Trauer aus oder hindern sie uns daran, berechtigte Bedürfnisse auszusprechen, ist es an der Zeit, etwas zu verändern. Auch wenn sie uns Dinge tun lassen, von denen wir wissen, dass sie uns schaden.
SOS-Koffer für die Seele
Der Talisman
Sicher wissen Sie einen Satz (oder ein Zitat, ein Sprichwort, eine Liedstrophe), der Ihnen Mut macht. Schreiben Sie ihn in Ihr Reisetagebuch. Schließen Sie die Augen und stellen Sie sich einen Gegenstand vor, der Ihren Mut-Satz symbolisch vertreten kann. Ein Stein, eine Feder, ein Stück glänzendes Metall? Lassen Sie Ihrer Fantasie freien Lauf. Oder basteln Sie sich Ihren Talisman. Er sollte griffbereit liegen, wenn Sie Ihre Seele erkunden.
Der Medizinbeutel
Was hilft Ihnen, negative Gefühle abzuwenden? Notieren Sie in Ihrem Tagebuch so viele schöne Gegenmaßnahmen wie möglich. Natürlich dürfen Sie auch in diesen imaginären Medizinbeutel greifen, wenn es Ihnen gut geht. Umso fixer wirken die Mittel im Ernstfall. „Jeden Tag sollten Sie etwas davon zu sich nehmen“, rät Colette Baron-Reid.
Dabei hilft es, innere Stimmen konkreten Mitbewohnern zuzuordnen, die unsere Seelenlandschaften durchstreifen. „Gelegentlich rufe ich mir selbst ,Kobold!‘ zu, um mich zu warnen, dass ich dabei bin, mich von der Stimme dieses boshaften Wesens verführen zu lassen“, so Colette Baron-Reid. Ängste, Verletzungen, verpasste Chancen, Scham, Neid, Wut – im Namen all dieser Erfahrungen, die sich umso öfter zu Wort melden, je stärker wir sie verbannen, treiben derartige Kreaturen ihr Unwesen. Auch hinter einem inneren Kritiker kann eine Art Kobold stecken. Deutlich weniger angstbesetzt, aber genauso nervig findet Colette Baron-Reid ihre innere Plaudertasche.
Eine spannende Reise
„Unermüdlich kommentiert sie jeden einzelnen Moment“, sagt die Expertin. Andere Stimmen werden dadurch übertönt. Wer es aber schafft, seine Plaudertasche sinnvoll zu beschäftigen, verwandelt sie in einen nützlichen Reisebegleiter. Das gilt auch für alle weiteren Mitbewohner, die uns auf unserer Reise begegnen. Jeden, den wir offen und selbstbewusst zu einer stillen Aussprache einladen, können wir danach wertschätzend annehmen. Mit wem Sie Ihre Seelenwelt teilen (müssen), verrät Ihnen Übung 2. Garantiert entdecken Sie andere Mitbewohner und Landschaften als Colette Baron-Reid. Gut so. „Keine zwei Seelen haben die gleichen Karten“, betont die Expertin. Sie hat sich z.B. vom Fantasy-Epos „Der Herr der Ringe“ anregen lassen. „Aber ich möchte dazu ermuntern, sich selbst noch weitere Landschaften und Bewohner auszudenken oder sich von Filmen oder Büchern, in denen intensive Landschaftsdarstellungen vorkommen, inspirieren zu lassen. Erkunden Sie sie, lernen Sie aus ihnen.“
Aber nicht ohne Ausrüstung! Führen Sie auf jeden Fall ein Reisetagebuch. Halten Sie fest, wie sich die Landkarte Ihrer Seele verändert. Manche innere Stimme hören wir schon so lange, dass wir uns regelrecht an sie gewöhnt haben. Andere reden so leise oder selten, dass wir erst behutsam nach ihnen suchen müssen. Blättern Sie deshalb alle drei bis vier Wochen in Ihrem Tagebuch zurück. Gilt noch, was Sie notiert haben? Wo stehen Sie inzwischen? Das motiviert. Ein Talisman und ein Medizinbeutel gehören ebenfalls ins Gepäck. „Bei der Arbeit mit Ihrer Karte werden Sie sich Aspekten Ihrer Persönlichkeit stellen müssen, die zu betrachten schmerzlich oder beängstigend sein kann“, warnt Colette Baron-Reid. Dann bewahrt Sie ein „SOS-Koffer“ davor, die Reise in die Innenwelt vorzeitig abzubrechen.
Das Schöne: Im Gegensatz zum Urlaub geht sie nie zu Ende. Wir können uns jederzeit fragen: Wo stehe ich gerade? Wer versucht, sich Gehör zu verschaffen? Welche Landschaft tröstet mich? Wie beeinflussen Mitmenschen mit ihren Innenwelten meine Seelenkarte? „Sie werden Verbündeten und Kontrahenten begegnen“, sagt Colette Baron-Reid. „Auch diese haben die Bestimmung, Ihnen zu helfen, eine immer bessere Kartographin zu werden.“ Mag der Weg auch manchmal steinig sein, am Ende behält der französische Schriftsteller Albert Camus recht, der mal geschrieben hat: „Das Reisen führt uns zu uns zurück.“
Lassen Sie sich inspirieren
1. Der Strand der Harmonie
Hier darf Ihr inneres Kind seinen Spieltrieb ausleben. Alles fühlt sich richtig an. Für Schuldgefühle oder Gedanken an das, was Sie erledigen müssten, ist kein Platz.
Hier darf Ihr inneres Kind seinen Spieltrieb ausleben. Alles fühlt sich richtig an. Für Schuldgefühle oder Gedanken an das, was Sie erledigen müssten, ist kein Platz.
2. Die Ebene der Stürme
Ein dunkler Ort, an dem Zorn die Luft knistern lässt. Es regnet in Strömen. Suchen Sie einen Unterschlupf und überlegen Sie: Woher kommt der Zorn? Was macht mich wütend? So verwandeln Sie Wut in kreative Energie.
3. Das Feld der Träume
Was haben Sie noch vor? Wenn Ziele konkreter werden sollen, können Sie sie hier säen und keimen lassen. Stellen Sie sich ein Geschöpf vor, das das Feld und die zarten Pflanzen pflegt.
4. Der friedvolle Teich
Ebenfalls ein Ort der Ruhe. Sein Wasser ist so still, dass Sie sich darin spiegeln können. Vorsicht: Das schmeichelt dem Ego sehr. Einen ehrlichen Blick auf sich selbst erhascht nur, wer auch mal abtaucht.
Ebenfalls ein Ort der Ruhe. Sein Wasser ist so still, dass Sie sich darin spiegeln können. Vorsicht: Das schmeichelt dem Ego sehr. Einen ehrlichen Blick auf sich selbst erhascht nur, wer auch mal abtaucht.
5. Der Zauberwald
Er kann uns ängstigen oder Geborgenheit vermitteln, je nachdem, wie wir ihn wahrnehmen. Genau darum geht es: Hier können Sie lernen, Dinge aus unterschiedlichen Blickwinkeln zu betrachten, das Ganze und die Einzelheiten zu sehen. Es gibt immer einen Ausweg.
6. Die Insel der zerbrochenen Träume
Wenn Sie sich für das eine entscheiden, lassen Sie das andere hier zurück. Doch auf dem Eiland lebt ein Wesen, das verloren geglaubte Träume wiederbeleben oder Ihnen helfen kann, Unum- kehrbares anzunehmen.
Wenn Sie sich für das eine entscheiden, lassen Sie das andere hier zurück. Doch auf dem Eiland lebt ein Wesen, das verloren geglaubte Träume wiederbeleben oder Ihnen helfen kann, Unum- kehrbares anzunehmen.
7. Die Schlucht der Echos
Bin ich, wie ich sein will? Nirgends wird diese Frage klarer beantwortet. Immer wieder werden Ihre Worte und Taten von den Wänden der Schlucht zu Ihnen zurückgeworfen – die Chance, ausgediente Überzeugungen durch neue zu ersetzen.
Bin ich, wie ich sein will? Nirgends wird diese Frage klarer beantwortet. Immer wieder werden Ihre Worte und Taten von den Wänden der Schlucht zu Ihnen zurückgeworfen – die Chance, ausgediente Überzeugungen durch neue zu ersetzen.
8. Das Land des Frostes
Gelegentlich werden negative Gefühle so stark, dass wir keinen klaren Gedanken fassen können. Hier kühlen Sie innerlich ab, planen die nächsten Schritte und lassen los, was nicht mehr sein soll.
Gelegentlich werden negative Gefühle so stark, dass wir keinen klaren Gedanken fassen können. Hier kühlen Sie innerlich ab, planen die nächsten Schritte und lassen los, was nicht mehr sein soll.
9. Das Dickicht der Ansprüche
Hier landen Sie, wenn Sie wieder mal versuchen, alle Ansprüche zu erfüllen, die an Sie gestellt werden – und können lernen, sich klarer abzugrenzen.
10. Das Tal der Tränen
Seine Wände erscheinen unendlich hoch. Der einzige Weg hinaus führt über die Erkenntnis, dass Verlust und Trauer zum Leben dazugehören. Und, ja, von Zeit zu Zeit müssen Sie zurückkehren.
Seine Wände erscheinen unendlich hoch. Der einzige Weg hinaus führt über die Erkenntnis, dass Verlust und Trauer zum Leben dazugehören. Und, ja, von Zeit zu Zeit müssen Sie zurückkehren.
Zeichnen Sie die Karte Ihrer Seele
Übung 1: Wo stehe ich?
Setzen Sie sich bequem hin. Schließen Sie die Augen. Atmen Sie tief ein und aus. Konzentrieren Sie sich auf eine Frage: Wo bin ich? Lassen Sie vor Ihren inneren Augen eine Landschaft entstehen. Versuchen Sie alle Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) einzusetzen. Alles darf sein. Bleiben Sie, bis Sie genug haben. Beantworten Sie jetzt im Reisetagebuch diese Fragen: Was war das für ein Ort? Waren Sie schon mal dort? Wie oft? Welche Gedanken und Gefühle verbinden Sie mit ihm? Hängt er mit Ihrer Vergan- genheit, Gegenwart oder Zukunft zusammen? Vielleicht haben Sie sogar Lust, die Landschaft zu malen.
Setzen Sie sich bequem hin. Schließen Sie die Augen. Atmen Sie tief ein und aus. Konzentrieren Sie sich auf eine Frage: Wo bin ich? Lassen Sie vor Ihren inneren Augen eine Landschaft entstehen. Versuchen Sie alle Sinne (Sehen, Hören, Riechen, Schmecken, Tasten) einzusetzen. Alles darf sein. Bleiben Sie, bis Sie genug haben. Beantworten Sie jetzt im Reisetagebuch diese Fragen: Was war das für ein Ort? Waren Sie schon mal dort? Wie oft? Welche Gedanken und Gefühle verbinden Sie mit ihm? Hängt er mit Ihrer Vergan- genheit, Gegenwart oder Zukunft zusammen? Vielleicht haben Sie sogar Lust, die Landschaft zu malen.
Übung 2: Mitbewohner
Kehren Sie in eine Seelenlandschaft aus Übung 1 zurück. „In jeder lebt ein Orakel“, erklärt Colette Baron-Reid. Fragen Sie sich: Wessen Stimme höre ich hier? Wer streift hier umher? Beobachten Sie das imaginäre Wesen leise. Halten Sie im Reisetagebuch fest, wen oder was Sie gesehen haben.
Kehren Sie in eine Seelenlandschaft aus Übung 1 zurück. „In jeder lebt ein Orakel“, erklärt Colette Baron-Reid. Fragen Sie sich: Wessen Stimme höre ich hier? Wer streift hier umher? Beobachten Sie das imaginäre Wesen leise. Halten Sie im Reisetagebuch fest, wen oder was Sie gesehen haben.
Übung 3: Annehmen
Drehen Sie den Spieß um! Besuchen Sie die Bewohner (aus Übung 2) Ihrer Seelenkarte, bevor Sie von ihnen heimgesucht werden. Den Kobold z.B.: Wie sieht er aus? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie ihm in die Augen schauen? Welchen Ereignissen verdankt er sein Dasein? Je mehr Verständnis Sie ihm entgegenbringen, desto weniger Angst müssen Sie haben. Tauschen Sie sich mit den anderen Bewohnern in ähnlicher Weise aus. Alle sind willkommen. Aber: Wer zu vorlaut ist, den dürfen Sie auch in die Schranken weisen (siehe Übung 4).
Drehen Sie den Spieß um! Besuchen Sie die Bewohner (aus Übung 2) Ihrer Seelenkarte, bevor Sie von ihnen heimgesucht werden. Den Kobold z.B.: Wie sieht er aus? Wie fühlen Sie sich, wenn Sie ihm in die Augen schauen? Welchen Ereignissen verdankt er sein Dasein? Je mehr Verständnis Sie ihm entgegenbringen, desto weniger Angst müssen Sie haben. Tauschen Sie sich mit den anderen Bewohnern in ähnlicher Weise aus. Alle sind willkommen. Aber: Wer zu vorlaut ist, den dürfen Sie auch in die Schranken weisen (siehe Übung 4).
Übung 4: Verändern
Schreiben Sie in Ihr Tagebuch zehn selbstbejahende Sätze (Affirmationen). Vorsicht: Formulierungen wie „Ich bin schön“ wecken den inneren Kritiker. Gut wirksam sind: „Ich darf...“, „Ich genieße es...“, „Ich werde jeden Tag...“ oder „Ich freue mich auf...“ Suchen Sie sich eine Affirmation aus und nehmen Sie sich in den nächsten zwei Wochen jeden Tag zehn Minuten Zeit, um sie sich immer wieder vorzusagen. Der Clou: Ihre Plaudertasche wird sie nur zu gern übernehmen
Schreiben Sie in Ihr Tagebuch zehn selbstbejahende Sätze (Affirmationen). Vorsicht: Formulierungen wie „Ich bin schön“ wecken den inneren Kritiker. Gut wirksam sind: „Ich darf...“, „Ich genieße es...“, „Ich werde jeden Tag...“ oder „Ich freue mich auf...“ Suchen Sie sich eine Affirmation aus und nehmen Sie sich in den nächsten zwei Wochen jeden Tag zehn Minuten Zeit, um sie sich immer wieder vorzusagen. Der Clou: Ihre Plaudertasche wird sie nur zu gern übernehmen