
VITAL: Warum haben wir alle das Gefühl, immer weniger Zeit zu haben?
DR. GEISSLER: Das ist nicht nur ein Gefühl, das stimmt tatsächlich. Weil wir immer mehr Aufgaben in die verfügbare Zeit legen. Der Grund dafür liegt nicht beim Einzelnen, das ist vielmehr ein gesellschaftliches Problem. Ständig übers Handy für Firma und Freunde erreichbar zu sein, erscheint uns heute als normal. Zudem müssen wir tagtäglich mit einer Flut von Informationen umgehen: die Nachrichten verfolgen, unseren Kontostand im Auge behalten, der sich durch Kartenabbuchungen ständig ändert, Angebote checken für Handys, Urlaubsreisen, Lebensmittel. Das Nervende dabei: Kaum haben wir uns das günstigste Angebot gesichert, kommt schon wieder ein besseres auf den Markt. Man kann gar nicht gewinnen!
Eigentlich sollten uns Erfindungen wie Handy und Internet das Leben erleichtern.
Das Gegenteil ist der Fall. Während bis vor rund 30 Jahren die Entwicklung dahin ging, immer schneller zu werden, also zum Beispiel schnellere Flugzeuge zu bauen, geht es heute um eine Verdichtung der Zeit. Wir telefonieren, checken nebenbei Mails, trinken Kaffee und hören auch noch Musik. Oder wir sitzen im Flieger, arbeiten am Laptop und nehmen das Mittagessen in Form des ausgeteilten Wurstbrötchens zu uns.
Apropos Fliegen: Manchmal vermisst man doch die langen gemütlichen Bahnfahrten. Was für ein großartiges Gefühl, über die französische Grenze zu rollen und später das Meer zu erblicken!
Ja, Wege sind etwas sehr Wichtiges. Sie sind Zeiten des Übergangs, des Transits. Wir schließen mit dem ab, was wir hinter uns gelassen haben, und bereiten uns auf das Kommende vor. Das ist ein schönes Ritual auf Urlaubsreisen, denn die sich verändernde Landschaft unterstützt die- sen Prozess. Aber besonders wichtig sind Wege im Alltag, denn mit ihrer Hilfe reduzieren wir das Tempo in unserem verdichteten Leben.
Soll ich also lieber Bummelzug fahren, statt über die Autobahn zu rasen?
Nehmen Sie ruhig den ICE, aber vergessen Sie nicht, unterwegs auch mal aus dem Fenster zu schauen. Wenn Sie von zu Hause aus arbeiten, können „künstliche“ Wege helfen, das Leben zu entschleunigen. Machen Sie morgens einen kleinen Spaziergang, bevor Sie sich an Ihren Schreibtisch setzen.
Das klingt ein bisschen konstruiert.
Ist es auch. Sich als Einzelner unserer beschleunigten Welt zu entziehen, fällt schwer. Jedem, der Geld verdienen muss, kann dieser Rückzug nur begrenzt gelingen. Oder, poetisch ausgedrückt: Kein Mensch ist eine Insel. Das Schlimmste, was man tun kann, wäre, sich wegen der eigenen Anspannung Vorwürfe zu machen. Nach dem Motto: „Was mache ich nur falsch, dass ich nicht entspannt bin?“ Lieber sollte man zeitweise die Hektik als Nebenwirkung unserer modernen Gesellschaft hinnehmen. Und trotzdem das Ziel verfolgen, so gelassen wie möglich zu leben.
Wie kann ich dieses Ziel denn verwirklichen?
Durch Verzicht. Benutzen Sie das Internet nur zu bestimmten Zeiten des Tages. Es kennt keinen Anfang und kein Ende – Sie müssen selbst bestimmen, wann Schluss ist. Schalten Sie das Handy zumindest in Entspannungsphasen aus oder auf stumm. Und lassen Sie sich nicht vom Geld verführen. Es kennt nämlich kein „Genug“. Bevor Ihr Körper Ihnen das „Genug“ aufzwingt, entscheiden Sie selbst, wann es reicht. Vielleicht wäre es Ihnen möglich, Teilzeit zu arbeiten oder weniger Aufträge anzunehmen? Denken Sie mal darüber nach.
Wie viel Zeit brauche ich denn für mich?
Menschen erfahren Zeit nicht so, wie die Zeiger der Uhr sie anzeigt. Fünf Minuten können unter- schiedlich lang sein, je nachdem, was man macht oder erlebt. Es kommt darauf an, sich in der hinzugewonnenen Zeit zu entspannen, wie auch immer die von Ihnen gewählte Entspannung aussehen mag. Auf der Parkbank den Vögeln zu lauschen, ist gut. Ob es Ihnen gelingt, sich zu entspannen, entscheidet sich aber nicht in diesen zehn Minuten oder zwei Stunden, sondern in der Zeit davor: Je gelassener Sie im Alltag sind, desto eher gleiten Sie dann auch in die erholsame Entspannung hinein.