
Sie sind sich wohl nie begegnet. Der Pazifik hat es verhindert. Der größte und tiefste Ozean der Erde war für die Kamayurá-Indianer im Amazonasgebiet von Brasilien und die Aborigines, die Ureinwohner Australiens, einfach unüberwindbar. Dazwischen liegt Hawaii, das einst von Polynesiern besiedelt wurde. Auch dieses Urvolk wusste vermutlich nichts von den beiden anderen. Als Forscher jedoch diese und andere sogenannte indigene Kulturen verglichen, fanden sie erstaunliche Übereinstimmungen. Vor allem ihre Erklärungen, warum der Mensch krank wird und wie man ihn heilen kann, ähneln sich. Ein jahrtausendealtes Heilwissen: die Ethnomedizin.
Die Idee dahinter
Es ist ein Leben in und mit der Natur, das alle indigenen Kulturen führten und teilweise bis heute führen. Das klingt ein bisschen nach Lagerfeuer-Romantik. Doch es war alles andere als das. Die Aborigines besiedelten genauso wie die Kamayurá-Indianer und die Polynesier Gebiete, die zuvor menschenleer gewesen waren. Sie mussten sich an extreme klimatische und geografische Bedingungen anpassen. Tem- peraturen über 50 Grad im australischen Outback, unberechenbare Vulkanausbrüche auf Hawaii und ein endloser Dschungel, eine „grüne Hölle“ aus Pflanzen und Tieren, von denen kein Stammesmitglied wissen konnte, ob sie gefährlich waren. „Urvölkern wie den Aborigines blieb deshalb gar nichts anderes übrig, als die Sprache der Natur zu lernen und mit den Tieren und Pflanzen eine Symbiose einzugehen“, sagt Dr. Ingfried Hobert (49), Gründer des Qualitätszirkels Ethnomedizin der Ärztekammer Hannover und verantwortlicher Leiter der EthnoMed-Akademie.
Ein starker Glaube
Ein starker Glaube an die große (Heil-)Kraft der Natur zieht sich deshalb wie ein roter Faden durch die Ethnomedizin. Die zweite Gemeinsamkeit: In fast allen indigenen Kulturen besteht die Natur bzw. die Welt aus einem sichtbaren und einem unsichtbaren Teil. Nicht nur Menschen haben eine Seele, sondern auch Tiere, Pflanzen oder besondere Plätze wie der Ayers Rock in Australien – Heiligtum der Aborigines – sind „beseelt“ oder haben einen besonderen Geist. Neben diesen guten und bösen Geistern bevölkern Götter, Energiewesen und auch die Seelen von Verstorbenen die unsichtbare Welt. Sie beeinflussen, was in der sichtbaren Welt geschieht – auch, woran und ob jemand erkrankt. „Von den meisten Urvölkern wird die Krankheit als Strafe aus der unsichtbaren Welt verstanden“, sagt Hobert. So glauben die Kamayurá-Indianer, dass der Geist eines toten Tieres seinen Jäger heimsucht, wenn der plötzlich erkrankt. Die Epilepsie etwa gilt als Rache eines getöteten Gürteltieres oder einer Schlange. Die australischen Aborigines zünden auf dem Weg zu einem Verletzten kleine Feuer an, um böse Energien (und infektiöse Fliegen!) zu vertreiben, die dem Stammesmitglied zusetzen. Demzufolge bedeutet Krankheit in der Ethnomedizin: Das gesunde Gleichgewicht zwischen der sichtbaren und der unsichtbaren Welt ist aus den Fugen geraten.Nur ein besondeer Mensch kann hier ausgleichen, böse Geister vertreiben und Kranke heilen: der Schamane (übersetzt: „Seher in der Dunkelheit“). Es gab und gibt ihn in allen indigenen Kulturen. Er ist der Arzt der Ethnomedizin. Auf Hawaii heißt er Kahuna, die Kamayurá- Indianer im Regenwald nennen ihn Pajé, die Aborigines gehen zu ihrem Nangkari. Doch alle Urvölker schreiben ihrem Schamanen jeweils die gleiche Gabe zu: „Sie sind Mittler zwischen sichtbarer und nicht sichtbarer Welt“, erklärt Dr. Hobert. Eine Auszeichnung ist das nicht, eher eine Bürde. Denn ein Stammesmitglied kann nur Schamane werden, wenn es extreme körperliche und seelische Erfahrungen und sehr harte Initiierungs-Rituale überstanden hat. Und nur dann glaubt der Stamm an seine heilenden Hände. „Dieser Glaube spielt in der Ethnomedizin eine Schlüsselrolle“, so unser Experte. Der Kranke glaubt an die besondere Gabe des Schamanen. Dieser wiederum glaubt an seinen exklusiven Zugang zur nicht sichtbaren Welt und nutzt ihn vor und während seiner Behandlung. Mit Tänzen, Ritualen, berauschenden Pflanzen oder Gebeten versetzt sich der Schamane dafür zunächst in Trance. Nur so kann er mit „guten Geistern“ in der unsichtbaren Welt Kontakt aufnehmen. In der Vorstellung der Kamayurá-Indianer sind es dann z.B. Vögel, die dem Schamanen zeigen, woran der Kranke leidet und was dagegen hilft. Mit diesem Wissen kehrt er schließlich in die sichtbare Welt zurück und therapiert den Kranken entsprechend. Dazu gehört es auch, dass Patienten mit Unterstützung des Schamanen selbst in die unsichtbare Welt „reisen“, um dort z.B. ihr persönliches Krafttier zu treffen. Letzte Handlungen des Schamanen vertreiben „das Böse“ dann endgültig. Der Kranke ist geheilt.
Das sagt die Forschung
Das sagt die Forschung
Immer genauere Methoden und Geräte machen es möglich, dass die Schulmedizin heute Krankheiten sogar auf molekularer Ebene nachvollziehen und erklären kann. Im Vergleich dazu wirken die Theorien und Rituale der Ethnomedizin fast naiv. Kann dahinter mehr stecken als buchstäblich Schall und Rauch? Die Antwort ist eindeutig: Ja! Für die Weltgesundheitsorganisation (WHO) hat der Schamanismus bei der Behandlung von psychischen und psychosomatischen Erkrankungen sogar eine vergleichbare Bedeutung und Wirksamkeit wie die westliche Medizin. Das kann Dr. Hobert nur unterstreichen: „Man kann den Schamanismus durchaus als eine spirituelle Form der Psychotherapie verstehen, die Kranken hilft, Vertrauen in sich selbst wiederzuerlangen. Der Glaube an den inneren Arzt ist der Schlüssel zur Heilung. Der Schamane gibt Impulse, die diesen Glauben stärken.“
Oft stecken diese Impulse in Pflanzen und anderen Naturprodukten, die von den Medizinmännern der Urvölker seit Jahrhunderten genutzt werden. Lange wurden sie von Pharmaunternehmen belächelt und ignoriert. Doch das hat sich grundlegend geändert. Das Interesse an den Wirkstoffen der Ethnomedizin ist heute so groß, dass dem Regenwald vielerorts der Kahlschlag und vielen Naturvölkern die Ausbeutung droht. Nicht nur in Brasilien gibt es deshalb nun eine Behörde, die Lizenzen an Pharmaunternehmen vergibt. Gleichwohl wird die Liste der Medikamente, die auf Mittel aus der Ethnomedizin zurückgehen, immer länger. 60 Prozent der Präparate gegen Krebs enthalten bereits Stoffe aus der Natur. Dazu gehört z.B. das Zellgift Vincristin, das einst aus Immergrün gewonnen wurde, einer Heilpflanze, die Schamanen auf den Philippinen schon lange kannten. Aus dem brasilianischen Rutakraut wurde ferner ein Wirkstoff für Augentropfen gewonnen.
Adressen & Tipps
Verein: Schamanismus und Heilen e.V., Bauerstr. 15, 80796 München, Telefon 0 89 / 20 06 19 01, www.schamanismus-und-heilen.de
Buchtipps: „Die Medizin der Aborigines“ von Dr. Ingfried Hobert, Oesch-Verlag, 207 Seiten, 14,95 Euro; „Handbuch der Ethnotherapien“ von Joy C. Green (Hrsg.), Books on Demand, 564 Seiten, 49,90 Euro
In der Rinde des samoanischen Mamala-Baumes fand der US-Ethnobotaniker Paul Cox das Anti-Aids-Mittel Prostratin. Das Chinin aus der südamerikanischen Chinarinde, das Medizinmänner bei Fieber einsetzten, hilft heute gegen Malaria. Salben gegen Gelenkschmerzen mit Auszügen aus der Beinwellwurzel gehen wiederum auf das Heilwissen der Schamanen Nordamerikas zurück. Und das ist längst nicht alles. Bisher haben Forscher erst etwas mehr als ein Prozent aller Pflanzen im Regenwald auf medizinisch nutzbare Bestandteile untersucht. Die Ethnomedizin könnte also noch die eine oder andere Überraschung für die moderne Schulmedizin bereithalten.
Eine Patientin erzählt
Eine Patientin erzählt
„Ich wusste: Das ist meine Blüte“
Ute Bernhardt (59), Designerin aus Berlin
Ende 2008 war mir plötzlich ständig schwindlig. Das war extrem unangenehm und schränkte mich sehr ein. Ich ging zum Internisten. Der konnte nichts Organisches feststellen. Das hatte ich aber auch, ehrlich gesagt, so erwartet. Denn ich hatte eher das Gefühl, innerlich oder seelisch nicht mehr fest auf der Erde zu stehen. Da ich immer offen für Neues bin, ging ich in die Praxis eines Arztes, der mit Ethnomedizin arbeitet. Nach einem langen Gespräch forderte er mich auf, mir intuitiv eine von den Blütenessenzen der Aborigines auszusuchen. Ich entschied mich für „Grey Mangrove“, eine kleine, sternförmige Blüte. Als der Arzt mir mehr über die Pflanze erzählte, ein Foto zeigte, fühlte ich mich sofort erkannt. Ich wusste: Das ist meine Blüte! Ich nahm sie zwei Wochen lang dreimal täglich ein. Schon nach drei Tagen war der Schwindel weg und ich fühlte mich innerlich wieder sicher. Das war eine intensive Erfahrung, eine tiefe Berührung durch die Natur.
Experten-Interview
Experten-Interview
„Urkraft der Natur nutzen“
Dr. Ingfried Hobert (49) ist Arzt und Leiter der EthnoMed-Akademie in Steinhude
Ist die Ethnomedizin nicht naiv? Oberflächlich vielleicht. Das alte Heilwissen anderer Völker bringt viele befremdliche Dinge zum Vorschein. Bei näherer Betrachtung verbergen sich dahinter aber hochinteressante Lösungswege, die einen entscheidenden Beitrag zu einer ganzheitlichen Heilung leisten können. Die Ethnomedizin ist eine wahre Schatztruhe.
Welche Methoden setzen Sie ein? Jeder Kranke bekommt von mir einen therapeutischen Maßanzug. So schicke ich Patienten z.B. zu einem Feuerlauf mit einer Schamanin, andere zu einer Schwitzhüttenzeremonie, die von den Lakota-Indianern stammt. Sehr gern setze ich auch Love Remedies, Blütenessenzen der Aborigines, ein. Dabei geht es um eine Berührung mit dem Außergewöhnlichen, eine Rückbindung an die Kräfte der Natur. Das setzt im Patienten enorme Energien frei und ist weitaus effektiver als eine Tablette.
Gibt es da nicht auch viele Scharlatane? Ja. Und durch den Esoterikboom ist die Ethnomedizin etwas in Verruf geraten. Ihre Hilfen zur Selbsthilfe kosten so gut wie nichts. Je vollmundiger Anbieter also Heilung versprechen und je höher die Kosten dafür sind, umso mehr Vorsicht ist geboten.
Wie kamen Sie zur Ethnomedizin? Nach einem Surfunfall auf Hawaii behandelte mich ein Schamane. Das war für mich eine außergewöhnliche Berührung und Begegnung, die ich nie vergessen habe.
Indianermedizin
Indianermedizin
Echinacea-Tee stärkt die Abwehr
In der Erkältungszeit gehört Echinacea (Sonnenhut) in die Hausapotheke. Er senkt das Infektrisiko um bis zu 60 Prozent. Das wussten schon die Indianer Nordamerikas, seinem Ursprungsland. Ihr Rezept: 1 TL Echinaceawurzel mit 1 Tasse kochendem Wasser aufgießen, 30 Min. ziehen lassen, abseihen und von dem Tee 3- bis 6-mal täg- lich 1 EL einnehmen.