Wenn die Natur Pause hat

Wenn die Natur Pause hat

Einkuscheln, ausspannen: Igel, Bär & Co. ruhen, bis der Frühling sie wieder wach kitzelt. Winterschlaf ist eine fantastische Erfindung. Nachmachen geht für uns zwar leider nicht – aber daraus lernen. Für einen angenehm entspannten Wohlfühl-Winter.

Winter© Thinkstock
Winter
Kälte kriecht durch die Ritzen. Der Wind fegt um die Ecken. Es regnet, es schneit, es braust. Und wir trinken Tee und warten. Darauf, dass es wieder länger hell ist abends und die Sonnenstrahlen dem Wecker morgens zuvorkommen. Darauf, dass der Wald nicht mehr schwarz-weiß scheint, sondern satt-grün duftend. Alles ist ein bisschen träger und gedämpfter in dieser Zeit, besonders wir selbst. Das regelt unser Körper ganz von allein: je kürzer die Tage, desto größer wird das Schlafbedürfnis. Daran können wir nichts ändern, das richtet sich nämlich nicht nach unseren Terminkalendern, sondern nach dem Hormonspiegel. Melatonin macht müde. Und weil im Winter die Nächte länger sind, ist der Melatoninspiegel – anders als im Sommer – auch tagsüber erhöht.

Akzeptieren statt rotieren

Macht die Natur schließlich auch. Sie schaltet einen Gang runter und sammelt Kraft für den Frühling. Sie hat ein perfekt ausgeklügeltes Programm: Wird es draußen dunkler und die Nahrung knapper, reduziert sich bei Igeln, Braunbären und Hamstern die Körpertemperatur. Stoffwechsel und Herzschlag verlangsamen sich. So können sie drei bis sechs Monate fast nichts tun. Sie ziehen sich zurück oder graben sich ein und verschlafen den Winter einfach, manche sogar komplett. Wenn sie wieder aufwachen, ist ihre Speckschwarte geschrumpft, ihre Muskeln aber sind noch immer kraftvoll. Eine traumhafte Vorstellung: sich schneewittchengleich hinlegen und von Tag zu Tag schöner werden, in vollkommener Ruhe – und dann irgendwann wach geküsst werden. Von einem Prinzen. Oder von der Sonne. Hauptsache: von etwas Schönem.
Wissenschaftler erforschen seit Jahrzehnten den Winterschlaf, um zu verstehen, wie Tiere es schaffen, ihren Stoffwechsel zu drosseln und auf Fettverbrennung umzustellen. Wenn man das wüsste, wäre das nicht nur der Durchbruch zum ewigen Schlanksein und verzögerten Altern. Es würde auch die Transplantationsmedizin revolutionieren. Organe könnten problemloser transportiert und verpflanzt werden, weil sie länger hielten. Patienten wären auch nach komplizierten Brüchen schneller wieder mobil. Die Alzheimerforschung setzt ebenso große Hoffnung in die Winterschlafforschung, weil Eichhörnchen und Ziesel zwar nach dem Aufwachen Gedächtnis- störungen haben, diese aber innerhalb von wenigen Tagen verschwinden. Klingt nach Science-Fiction, scheint aber mittlerweile gar nicht mehr so abwegig.

Der künstliche Winterschlaf

Bei Rotzahnspitzmäusen immerhin hat es geklappt, sie mit einer Injektion des gensteuernden 5-Adenosinmonophosphats in Winterschläfer zu verwandeln. Die Substanz des texanischen Forscherteams ist mittlerweile zum Patent angemeldet. Gut, wir sind keine Mäuse, deswegen dürfen wir den Jungbrunnen per Spritze in absehbarer Zeit nicht erwarten. Aber eine Hamburger Zoologin entdeckte sogar Primaten, die sieben Monate schlafend verbringen. Die brauchen dazu nicht einmal Kälte, denn schließlich ist der Winter auf Madagaskar für uns gefühlt hochsommerlich. Den Fettschwanzmakis aber mangelt es in der Trockenzeit an Wasser und Nahrung – also verschlafen sie diesen Engpass. Selbst Hirsche und Rehe, von denen wir immer dachten, sie wären vom Winterschlaf weit entfernt, schaffen es im Winter, die Körpertemperatur um beinahe 20 Grad zu senken und nachts für etwa acht Stunden auf Sparflamme zu leben.
Aber noch funktioniert das mit uns und dem Winterschlaf nicht. Wir sind weder Schneewittchen noch Dornröschen. Unser Programm ist ein anderes. Doch das ignorieren wir regelmäßig, wohl ungefähr seit der Erfindung des elektrischen Lichts. Seitdem wird gegen den Körper gekämpft – und die Müdigkeit. Wann geschlafen wird, bestimmt die Uhr, und zwar nicht die eigene innere, sondern 260 Atomuhren an über 60 weltweit verteilten Instituten. Wenn es ganz schlecht läuft, bestimmt das Fernsehprogramm.

Einfach mal: Ruhe

Wir stehen auf dem Weg zur Arbeit starr vor Kälte an S-Bahnhöfen oder Bushaltestellen, aber zur echten Kältestarre wie bei wechselwarmen Tieren, z. B. Amphibien, Reptilien oder Insekten, reicht es nicht. Es ist mehr eine Duldungsstarre. Und all das Jammern nützt auch nichts. Es ist, wie es ist: Winter eben. Pause. Zeit also, sich morgens im Dunkeln auf den Weg zu machen. Vielleicht im Schnee, der die Schritte aufsaugt und sich wie ein Schalldämpfer über Städte und Dörfer legt. Die Luft ist klar. Der Kopf auch. Die Gedanken können besser fließen, man ist mehr bei sich. Das tut gut. Einfach mal den Stecker ziehen. Das geht, zumindest im Kleinen. Ideal wäre es, jeden Tag nach Sonnenaufgang ein bis zwei Stunden im Freien zu verbringen. Das können jedoch nur die wenigsten. Aber schon die Mittagspause für einen Spaziergang zu nutzen, hilft dem Körper, sich wieder fit zu fühlen. Am Wochenende findet sich vielleicht mehr Zeit zum Draußensein. Wenn nicht gerade gleißend die Sonne scheint, bleibt die Sonnenbrille besser im Etui. Denn Ausschüttung und Abbau von Melatonin werden durch einfallendes Licht ins Auge gesteuert.
Kein Wunder also, dass unser Körper im Winter in den Energiesparmodus geht. Also: Aktivitäten reduzieren. Abendliche Job-Termine absagen statt das Dinner. Nach 18 Uhr wird nicht mehr gehetzt, sondern entspannt. Ist ohnehin schon dunkel. Elternabend schwänzen? Telefon ignorieren? Erlaubt! Der besten Freundin absagen? Warum nicht? Wahrscheinlich wird sie selbst froh sein, nicht mehr rauszumüssen.

Ein bisschen Tier sind wir

Das Nest lockt mit Wärme. Und das Einigeln befreit. Nennen wir es vielleicht lieber Cocooning, das klingt nicht so sehr nach Einsiedlertum, sondern nach Trend. Im Grunde handeln wir so aber nach einem gesunden Reflex, der uns durch das ständige Erreichbarsein, das Immer-aktiv-sein-Müssen heutzutage einfach viel zu oft abhanden gekommen zu sein scheint. Die Selbsttäuschung, so zu tun, als wären Menschen völlig autark, unabhängig von Jahreszeiten und Natur, funktioniert bestens, nützt uns aber nichts. Der Winter lässt sich nicht mit Ignorieren oder Sportorgien im Keim ersticken. Ist schließlich gar nicht die Zeit fürs Keimen. Die kommt bald wieder. Und die Energie auch. Versprochen.
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