Was tun bei Schwindel?

Was tun bei Schwindel

Wegen seiner komplexen Ursachen führt Schwindel oft zu einer Ärzte-Odyssee. Letzte Hoffnung München: VITAL besuchte die dortige Spezialambulanz

Schwindel© iStockphoto
Schwindel

Binnen Sekunden gerät ihre Welt aus den Fugen. Alles verliert die Konturen, scheint ineinander zu fließen wie die Farben in einem Aquarell. Schlagartig kommt die Angst, das Gefühl, nichts mehr im Griff zu haben. Diesen Kontrollverlust findet Sophie Gebauer am schlimmsten. Jedes Mal, wenn eine Schwindelattacke über die 33-jährige Grundschullehrerin hereinbricht, ist sie ihm hilflos ausgeliefert. „Manchmal dreht sich alles wie in Zeitlupe. Aber meistens fühlt es sich an, als würde ich in einem Mixer stecken, der auf höchster Stufe läuft und alles durcheinanderquirlt“, erzählt die Augsburgerin. Nach etwa einer Minute verschwindet der Spuk wieder, erscheint jedoch seit acht Monaten fast täglich. „Oft reicht eine Kopfbewegung, und es geht los“, sagt Sophie Gebauer, die wegen der Anfälle schon mehrmals ihren Unterricht unterbrechen musste. Sie ließ sich von zwei Ärzten und einem Heilpraktiker behandeln, helfen konnte ihr keiner. Jetzt sitzt sie im Wartebereich der Schwindelambulanz an der Neurologischen Klinik in München-Großhadern und hofft, dass es die Experten hier schaffen, das Karussell in ihrem Kopf schnell zu stoppen.

Eine Kopfbewegung genügt, schon kommt der Schwindel

Gemäß der Statistik von Professor Michael Strupp, Neurologe und Leiter der Ambulanz, stehen ihre Chancen sehr gut: „Etwa 95 Prozent der Patienten, die hierherkommen, erhalten eine konkrete Diagnose“, verspricht er. Und damit die Chance auf eine Therapie. Diese hohe Zahl macht vielen Betroffenen Hoffnung, denn das größte Problem beim Schwindel ist, für die circa 300 verschiedenen Formen jeweils die Ursache zu finden. Und Schwindel ist ein Massenphänomen – Auslöser für jeden zehnten Hausarztbesuch. Nur Kopfschmerzen werden noch häufiger beklagt. „Schwindelattacken sind jedoch keine Krankheit, sondern stets der Hinweis auf eine andere Störung. Ein Sinneskonflikt mit den unterschiedlichsten Ausprägungen und Auslösern“, erklärt Strupp. Äußern kann sich dieser als starkes Schwanken wie auf einem Boot, als Drehen oder Sog. Er kann mit Symptomen wie Doppelbildern und Koordinationsverlust einhergehen, mit Übelkeit, Schweißausbrüchen, Erbrechen, Kopfschmerzen und Herzrasen. Noch vielfältiger sind die Ursachen: Blutdruckschwankungen, Entzündungen des Innenohrs, Erkrankungen des Gehirns oder psychische Probleme kommen infrage. „Da ergeben sich Dutzende von Möglichkeiten, und genau das ist der Hauptgrund, weshalb viele Patienten eine jahrelange Odyssee hinter sich haben“, so Strupp.

Patienten die Angst nehmen

Dass diese oft am Neurologischen Institut der Münchner Uniklinik beendet werden kann, liegt vor allem am interdisziplinären Ansatz der Einrichtung. Im europaweit einzigartigen Forschungszentrum für Schwindel, Gleichgewichts- und Augenbewegungsstörungen arbeiten Neurologen, Augen- und HNO-Ärzte, Psychotherapeuten, Physiker und Ingenieure an neuen Diagnose- und Therapieverfahren, um die Lage von Schwindel- Patienten zu verbessern. „Denn die sind bislang heillos unterversorgt“, sagt Strupp und betont, wie wichtig es sei, den Betroffenen zunächst die Angst zu nehmen. „Auch wenn er bedrohlich wirkt, hat Schwindel häufig eine gutartige Ursache, die sich therapieren lässt.“ Wie bei Claudia Moreno aus Kempten, die „fast verrückt wurde“ von den Attacken, die sie vier Jahre lang quälten. Immer wieder überfiel die 50-jährige Steuerberaterin ein heftiger Drehschwindel, „teilweise stundenlang und so massiv, dass ich dachte, ich müsste sterben“, flankiert von starker Übelkeit und Ohrgeräuschen. Als Claudia Moreno vor einem Jahr in die Münchner Schwindelambulanz kam, fühlte sie sich nervlich am Ende.

Gleichgewichts-Tests helfen, die Ursache einzugrenzen

Von Prof. Strupp und seinem Experten-Team wurde ihr Körper regelrecht auf den Kopf gestellt. Nach eingehenden Gesprächen und vielen Untersuchungen bestätigte sich der Verdacht auf Morbus Menière – eine noch wenig erforschte Erkrankung des Innenohrs, bei der sich Flüssigkeit rund um das Gleichgewichtsorgan staut und auf den Nerv drückt. Als Therapie bekam Claudia Moreno ein Medikament, das die Durchblutung im Innenohr anregt und überschüssiges Sekret ableitet. Allmählich wurden die Attacken schwächer, schon seit fünf Monaten spürt sie keinerlei Beschwerden mehr auftreten. Auf so einen Erfolg hofft auch Sophie Gebauer. Nach einem ersten Check, bei dem der Ambulanz-Arzt Art und Dauer der Beschwerden erfragte, hat sie inzwischen mehrere Tests durchlaufen: Ihre Stand- und Haltungsregulation wurde auf einer speziellen Plattform gemessen. Während sie über eine mit Sensoren versehene Matte lief, wurde ihre Gangsicherheit geprüft. Mit einer Warmwasserspülung in die äußeren Gehörgänge wurde die Erregbarkeit ihres Gleichgewichtsorgans getestet. Auch mögliche Störungen der Augenbewegung wurden untersucht. Nun sitzt Sophie Gebauer wieder in einem Untersuchungszimmer. Mit aufmunterndem Lächeln kündigt Neurologe Strupp ihr einen weiteren Test an, der ihm endgültig beweisen soll, dass die Patientin unter einem gutartigen Lagerungsschwindel leidet. Dessen Ursache sind winzige Kalkkristalle (Otolithen) im Gleichgewichtsorgan, die sich durch einen Unfall, durch Entzündungen oder Alterungsprozesse lösen und verlagern.

Häufige Schwindelformen

1. Gutartiger Lagerungsschwindel
Kleinste Kristalle, die in den Bogengängen des Gleichgewichtsorgans umherkullern, rufen Schwindel hervor – bei jeder Kopf- oder Körperbewegung. Zusätzlich oft noch Übelkeit und Erbrechen.

2. Phobischer Schwankschwindel
Benommenheit, Fallangst und ein schwankendes Gefühl kennzeichnen diese psychisch bedingte Form, an der oft perfektionistisch veranlagte Menschen leiden. Die Anfälle treten meist in klassischen Paniksituationen auf.

3. Zentral-vestibulärer Schwindel
Die Ursache für Dauerschwindel, Doppelbilder, Sprech- oder Koordinationsstörungen liegt im Bereich des Hirnstamms, des Klein- oder Großhirns. Da Durchblutungsstörungen zugrunde liegen können, sollte man die Beschwerden rasch abklären.

 

 

Der Lagerungsschwindel lässt sich leicht therapieren

„Bei dieser Form des Schwindels ist die Diagnostik gleichzeitig die Behandlung“, sagt Prof. Strupp und setzt seiner Patientin eine Spezialbrille auf, durch die er ihre Augenbewegungen wie durch eine Lupe beobachten kann, die sogenannte Frenzelbrille. Dann verändert er Sophie Gebauers Position, lässt ihren Oberkörper mal nach links, dann nach rechts fallen, um Schwindel zu provozieren. „Durch die abrupte Lageänderung werden die Otolithen aus dem Bogengang des Gleichgewichtsorgans geschleudert“, sagt Strupp und erklärt der Patientin, wie sie diese Übung zu Hause nachmacht, falls sich die Otolithen erneut verirren. „Das ist verblüffend einfach. Ich bin froh, dass mein Schwindel harmlos ist und ich selbst was dagegen tun kann“, sagt Sophie Gebauer. Ihre monatelange Tortur geht damit zu Ende und der Schwindel ist kein Thema mehr.

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