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DEUTSCHE TINNITUSLIGA E. V. (DTL), Am Lohsiepen 18, 42369 Wuppertal, www.tinnitus-liga.de
Das Phänomen kennt jeder: Ganz plötzlich surrt, pfeift oder piept es im Ohr. Normalerweise verschwinden solche Geräusche schnell wieder – aber nicht immer. „Jedes Jahr geht bei rund 340 000 Betroffenen der Tinnitus in eine chronische Form über“, sagt Dr. Catri Tegtmeier, Chefärztin in der Tinnitus- Klinik der medizinisch-psychosomatischen Klinik Große Allee in Bad Arolsen. Das bedeutet oft extremen Stress für Psyche und Körper. Diese Patienten brauchen Hilfe. VITAL sprach mit Dr. Tegtmeier über die Problematik und moderne Therapiemöglichkeiten.
„Oft bleibt es nicht beim Tinnitus“
Dr. Catri Tegtmeier, Chefärztin der medizinisch-psychosomatischen Tinnitus-Klinik Bad Arolsen.
VITAL: Wie verläuft die Behandlung des akuten und die des chronischen Tinnitus?
DR. TEGTMEIER: In 60 bis 80 Prozent der Fälle heilt ein akuter Tinnitus spontan. Er wird vorrangig medikamentös behandelt – häufig auch mit Infusionen. Ratsam ist auch eine Auszeit vom Alltag. Der positive Effekt von Ruhe, um Stressfaktoren abzubauen, ist unumstritten. Neues gibt es bei der Behandlung des chronischen Tinnitus: Das Geräusch muss nach heutigem Wissenschaftsstand nicht zwingend beseitigt, sondern bewältigt werden. Da der Tinnitus verschiedene Ursachen haben kann, ist ein multimodaler Therapieansatz notwendig. Statt einer auf das Hören konzentrierten Behandlung rückt jetzt die Psyche mit in den Fokus. Das Gehirn soll lernen, den Tinnitus als weniger wichtig und ungefährlich wahrzunehmen. Hat der „Ton im Ohr“ seine Bedrohung verloren, lässt er auch nach.
VITAL: Wann wird ein Tinnitus denn chronisch?
DR. TEGTMEIER: Eine Chronifizierung entsteht oft dann, wenn sich nach der akuten Behandlung kein Erfolg einstellt. Wer dem Geräusch in der Akutphase zu hohe Aufmerksamkeit schenkt, begünstigt einen chronischen Verlauf. Das Symptom bekommt eine zu große Bedeutung und beeinflusst zunehmend stark die Lebensgestaltung. Es entwickelt sich ein Teufelskreis aus Aufmerksamkeitsfokussierung und unangenehmer Empfindung, der sich oft nicht mehr aus eigener Kraft durchbrechen lässt.
VITAL: Das wirkt sich auf die Lebensqualität aus?
DR. TEGTMEIER: Ja. Der Tinnitus wird im limbischen System, einer Struktur des Gehirns, in dem die Gefühle entstehen, zunehmend als Warnsignal bewertet und ungefiltert an die Hörrinde im Gehirn weitergeleitet. Dies führt letztendlich dazu, dass das Ohrgeräusch immer lauter und massiver als Belästigung empfunden wird. Dieser Prozess verstärkt sich weiter, wenn das allgemeine Erregungsniveau des limbischen Systems durch Dauerbelastung ansteigt. Dadurch kann ein sonst aus der Wahrnehmung verdrängtes Ohrgeräusch in den Vordergrund gelangen und die Belastung noch erhöhen. Mögliche Folgen: Konzentrations-, Schlaf- oder Angststörungen, Depressionen und eine verminderte Belastbarkeit. Häufig kommt es dann auch zum sozialen Rückzug bis hin zur Arbeitsunfähigkeit.
VITAL: Gibt es so etwas wie das Schmerzgedächtnis auch beim Tinnitus?
DR. TEGTMEIER: Es existieren zahlreiche Parallelen zwischen chronischen Schmerzen und chronischem Tinnitus: Auch wenn der ursprüngliche Reiz weg- fällt, kommt es zu einer subjektiven Wahrnehmung. Außerdem kann der Tinnitus – analog zum Phantomschmerz nach Verlust einer Extremität – auch nach Durchtrennung des Hörnervs weiter bestehen. Daraus lässt sich ableiten, dass beim Tinnitus auch strukturelle Änderungen im Zentralnervensystem, im Bereich der zentralen Hörbahn, eine Rolle spielen. Man nennt das „neuronale Plastizität“. Solche Veränderungen sind auch beim chronischen Schmerz zu finden.
Zweiter Teil des Interviews
VITAL: Was ist der Kerngedanke des multimodalen Behandlungsansatzes?
DR. TEGTMEIER: Der chronische Tinnitus ist ein psychosomatisches Leiden. Es setzt sich immer aus organischen oder funktionellen sowie psychosomatischen Faktoren zusammen, die im Verlauf eine unterschiedliche Gewichtung bekommen können. Die Therapie basiert auf der Kombination neurootologischer (die Kopfsinne betreffender; Anm. der Red.) und psychosomatischer Behandlungsansätze. Neben einer umfangreichen Aufklärung über das Krankheitsbild werden gezielt Entspannungsübungen vermittelt. Der Fachbegriff dafür: Tinnitus-Counseling. Im Rahmen der speziellen Hörtherapie wird die sogenannte Tinnitus-Retraining-Therapie durchgeführt. Hilfreich können hierbei hörgeräteähnliche Rauschgeneratoren sein. Ziel dieser Methode ist es, mit Hilfe eines relativ leisen Dauerrauschens die Wahrnehmung des Tinnitus zu reduzieren. Die Behandlung erfordert somit eine enge Zusammenarbeit von HNO-Ärzten, Hörtherapeuten, Hörgeräteakustikern und – ganz wichtig – Psychotherapeuten, die den Betroffenen die Vielschichtigkeit des Tinnitus aufzeigen.
VITAL: Ergänzend wird auch das Biofeedback- Verfahren eingesetzt. Wo liegt sein Nutzen?
DR. TEGTMEIER: Ein Tinnitus wird oft von körperlichen Beschwerden wie Nervosität und der Unfähigkeit, sich zu entspannen, begleitet. Das führt in vielen Fällen zu einer erhöhten Anspannung in der Kopf- und Schultermuskulatur. An dieser Stelle setzt Biofeedback an. Mit speziellen Geräten werden Körpervorgänge wie Muskelspannung und Hautwiderstand, die sonst nicht oder nur ungenau wahrgenommen werden, gemessen, grafisch oder akustisch dargestellt und damit bewusst gemacht. Patienten, die Stressbewältigungs- und Entspannungsstrategien trainiert haben, bekommen so eine verständliche Rückmeldung, wie gut sie sich entspannen. Bewährt hat sich die Kombination aus Biofeedback und Verhaltenstherapie. Zusätzlich werden die Wahrnehmung körperlicher Prozesse geschult und psycho-physiologische Zusammenhänge verdeutlicht, beispielsweise der Einfluss von Stress auf körperliche Reaktionen. Weiterer Behandlungsbaustein ist ein Schwellentraining. Darunter versteht man den gezielten Wechsel von Anund Entspannung. Insgesamt ist die biofeedbackgestützte Verhaltenstherapie ein sehr vielversprechender Ansatz, der verschiedene Aspekte der Tinnitusbelastung berücksichtigt und zu deutlichen und langfristigen Verbesserungen führt.
VITAL: Wie schnell zeigen sich die Erfolge der multimodalen Therapie?
DR. TEGTMEIER: Das ist individuell sehr verschieden. Bei manchen Betroffenen reichen eine umfassende medizinische Aufklärung über die Harmlosigkeit der Störung, die Vermittlung von Entspannungsverfahren plus eventuell ein Hörgerät aus. Je ausgeprägter die körperlichen und psychischen Beschwerden sind, desto länger dauert in der Regel auch die Behandlung. Bei einem stationären Aufenthalt liegt diese bei vier bis acht Wochen. Wer dauerhaften Erfolg erzielen will, muss das Gelernte aber auch danach im Alltag umsetzen.
VITAL: Und wie sieht es mit der Erfolgsquote aus?
DR. TEGTMEIER: Bei fast allen Patienten ist eine gewisse Besserung zu erreichen. Wenn man aber die Erwartung hat, dass der Tinnitus völlig verschwindet, gibt es nur geringe Erfolge. Muss hier grundsätzlich umgedacht werden? Ja. Mit dem Tinnitus zu leben, und zwar möglichst gut, das ist das Ziel. Und bis zu 80 Prozent der Betroffenen gewöhnen sich tatsächlich an das Ohrgeräusch, nehmen es kaum mehr wahr. Das führt dann auch dazu, dass sie sich insgesamt wieder besser fühlen und Angststörungen oder Depressionen verschwinden.
Fakten
Das unheimliche Pfeifen – die Fakten.
DAUERKLINGELN
Tinnitus ist die medizinische Bezeichnung für die Wahrnehmung von Geräuschen ohne externe Geräuschquellen. Der Begriff leitet sich vom lateinischen „tinnire“ ab und bedeutet „klingeln“. Das unangenehme, meist sehr quälende Geräusch kann mit ganz wenigen Ausnahmen nur der Betroffene selbst wahrnehmen.
SYMPTOM STATT KRANKHEIT
Tinnitus ist keine eigenständige Krankheit, sondern ein Symptom, das verschiedene Ursachen haben kann. Seine Diagnostik ist deshalb auch eine interdisziplinäre Aufgabe.
ZUM HNO-ARZT
Er ist der erste Ansprechpartner. Zusätzlich sollte ein Kernspintomogramm des Gehirns und der Einmündung des Hör- und Gleichgewichtsnervs angefertigt werden. Weiterhin sind Untersuchungen durch einen Neurologen, Internisten, (Kiefer-) Orthopäden sinnvoll.
WANN ES PIEPT
Auslöser sind Lärmtraumata, lärmbedingte Schwerhörigkeit, Hörsturz, Stress, Infektionen.