
Erinnern Sie sich an Ihre letzte Sommergrippe? Klar, denken Sie. Halsweh, Husten, Schnupfen – wie immer. Und welcher Virus war diesmal Schuld? Keine Ahnung. Aber Ihr Immunsystem würde den Eindringling jederzeit wiedererkennen. Während Sie flach lagen, haben sich spezielle weiße Blutkörperchen in sogenannte Gedächtniszellen verwandelt und sich das verräterische Aussehen des Erregers eingeprägt. Sollte er tatsächlich einen weiteren Angriff starten, werden innerhalb von Stunden Antikörper freigesetzt, die ihn als „fremd und gefährlich“ markieren. Und die Fresszellen wissen, was sie dann zu tun haben.
Jeder Eindringling wird wie in einer Verbrecherkartei angelegt.
Zu jedem Verdächtigen kann ein Antikörper hergestellt werden – ein Gegenstück, das zu dem Krankheitserreger so genau passt wie ein Spezialschlüssel in ein Sicherheitsschloss. Ein geniales Prinzip, das die Medizin schon seit Jahrzehnten intensiv nutzt. Sämtliche Impfungen basieren darauf: Uns werden abgetötete Krankheitserreger oder Teile davon gespritzt, der Körper „merkt“ sie sich und ist danach für viele Jahre geschützt. Zahlreiche Infektionen konnten dadurch fast ausgerottet werden. Doch bei Krankheiten wie Rheuma, Schuppenflechte oder Krebs laufen im Körper Prozesse ab, die unsere Abwehr von sich aus nicht als gefährlich einstuft. Schon 1975 entstand deshalb die Idee, Antikörper im Labor herzustellen, die unserem Immunsystem auf die Sprünge helfen können. Ihren Durchbruch erlebt die Behandlung mit sogenannten Biologika jedoch erst jetzt. Viele Forscher sehen in den Y-förmigen Eiweißmolekülen inzwischen die neue „Wunderwaffe“ der Medizin.
So war bis zur Einführung der Antikörper-Therapie z. B. die Augenkrankheit AMD (altersbedingte Makuladegeneration) für die Hälfte aller Erblindungen in Deutschland verantwortlich. 2005 wurde Bevacizumab zugelassen, zwei Jahre später Ranibizumab. Die beiden Zungenbrecher-Wirkstoffe blockieren ein Signalmolekül, das bei der AMD dafür verantwortlich ist, dass feine, leicht blutende Äderchen in die Makula einwachsen, den Bereich des schärfsten Sehens. Der Arzt spritzt einen der beiden Antikörper in das betroffene Auge. „Durch diese Therapie kann man nicht nur eine weitere Sehverschlechterung vermeiden. Bei vielen Patienten lässt sich sogar eine nachweisbare Sehverbesserung erzielen“, so Dr. Georg Eckert, Sprecher des Berufsverbandes der Augenärzte in Düsseldorf.
Rheuma
Auch im Kampf gegen Rheuma verfolgen Ärzte ehrgeizige Ziele.
„Früher wollten wir einen erträglichen Zustand erreichen“, so Prof. Iris Löw-Friedrich, Forschungsleiterin beim Pharmakonzern UCB und Lehrbeauftragte an der Universität Frankfurt. „Heute heißt das Behandlungsziel Remission: Die Betroffenen sollen symptomfrei sein.“ Dafür sind zurzeit drei Antikörper zugelassen: Adalimumab, Certolizumab und Rituximab. Die ersten beiden blockieren den Entzündungsbotenstoff TNF-alpha. Rituximab besetzt eine Art Schalter auf weißen Blutkörperchen und verhindert so, dass sie weitere Entzündungsauslöser freisetzen. Dadurch arbeiten Gelenke wieder wie geschmiert, Schwellungen gehen zurück, die morgendliche Steife lässt nach. Das belegen mittlerweile mehrere große Studien. Da auch die Rheuma-Symptome Erschöpfung und Müdigkeit deutlich abnehmen, können viele Betroffene tatsächlich wieder ein normales Leben führen.
Fehlgeleitete Entzündungen spielen nicht nur bei Rheuma, sondern ebenso bei Schuppenflechte (Psoriasis) und multipler Sklerose (MS) eine entscheidende Rolle. Die Suche nach wirksamen Antikörpern läuft in beiden Fällen auf Hochtouren. Jeweils einer ist schon auf dem Markt: Ustekinumab kann bei Psoriasis-Patienten innerhalb von zwölf Wochen die Beschwerden um bis zu 75 Prozent mildern. Natalizumab verringert im gleichen Zeitraum die Anzahl der MS-Schübe um bis zu 68 Prozent und senkt das Risiko einer zunehmenden Körperbehinderung aufgrund der MS um bis zu 54 Prozent. Das bedeutet: mehr Lebenszeit, die nicht durch die Krankheit beherrscht wird. Bei keiner anderen Krankheit ist das so wichtig wie bei Krebs. Da erstaunt es nicht, dass die meisten Antikörper, die das Paul-Ehrlich-Institut in Langen auflistet – insgesamt 29 –, für diese Indikation zugelassen sind. Sie schneiden Tumore von der Blutversorgung ab, bremsen ihr unkontrolliertes Wachstum oder markieren sie, damit Abwehr zellen sie abtöten können.
Noch kann die Antikörper-Therapie die bisherigen Behandlungsmethoden (Chemotherapie, Bestrahlung, OP) nicht ersetzen. Aber wirkungsvoll ergänzen. So belegen zahlreiche Studien, dass beispielsweise der Antikörper Trastuzumab bei Brustkrebs öfter eine brusterhaltende Operation ermöglicht und viel dazu beiträgt, dass der Krebs seltener zurückkehrt. Sogar wenn sich schon Tochtertumore (Metastasen) entwickelt haben, bewirkt die Antikörper-Therapie ein deutlich langsameres Voranschreiten.
Negativschlagzeilen
Doch in jüngster Zeit machten negativschlagzeilen die Runde.
Antikörper-Zucht: Die Erfinder gewannen 1984 den Nobelpreis
Was sind Antikörper? Antikörper sind Y-förmige Eiweißmoleküle, die körperfremde Strukturen erkennen (z. B. Viren, Bakterien), sich an ihnen festheften und sie so für Abwehrzellen markieren. Sie bestehen aus drei gleich großen Abschnitten, die zusammen das Ypsilon bilden. Die oberen Äste passen immer nur auf einen ganz bestimmten Eindringling. Fachleute sprechen von dem Epitop, das hier gebunden wird. Das können z. B. Eiweißmoleküle auf der Außenhülle von Bakterien sein. Der dritte Ast eines Antikörpers, die sogenannte konstante Region, nimmt mit den Abwehrzellen Kontakt auf. Sie ist bei allen Antikörpern gleich aufgebaut. So kann das Immunsystem schneller und gezielter auf neue Fremdstoffe reagieren.
Wie werden Antikörper im Labor gezüchtet? Dazu kombiniert man zunächst bestimmte weiße Blutkörperchen (B-Lymphozyten), die den gewünschten Antikörper gebildet haben, mit speziellen Abwehrzellen (Plasmazellen), die unbegrenzt Antikörper herstellen können. So entstehen sogenannte Hybridomzellen, von denen nur die ausgewählt und weiter gezüchtet werden, die den am besten passenden Antikörper bilden. Das Prinzip wurde 1975 von César Milstein, Georges Köhler und Niels Jerne ent wickelt, 1984 bekamen die drei Forscher dafür den Medizin-Nobelpreis.
Wie kommen Antikörper zu ihren Namen? Hinter den Zungenbrecher-Vokabeln steckt durchaus System: Die Endsilbe „mab“ steht für „monoclonal antibody“, also für monoklonaler (d. h. aus einer einzigen Zelle stammender) Antikörper. „omab“ zeigt, dass er ursprünglich mit Hilfe von Mäusen gezüchtet wurde. „imab“ steht für Affe. „ximab“ zeigt an, dass nur ein Teil von der Maus stammt. Antikörper, die mit „umab“ enden, sind komplett menschlichen Ursprungs.
Trotzdem ist der Einsatz keineswegs harmlos: Jeder künstliche Antikörper greift massiv ins Immunsystem ein und wirkt nie nur dort, wo er wirken soll. Hemmt er das Blutgefäßwachstum, tut er das nicht nur am Tumor. Die Folge: Wunden heilen schlechter, das Thrombose- und Bluthochdruck-Risiko steigt. Andere Wirkstoffe schwächen das Herzmuskelgewebe oder lösen akneähnliche Hautveränderungen aus. Jeder zehnte Patient hat mit häufigen Atemwegsinfektionen zu kämpfen. Dazu kommen Depressionen, Durchfall oder Muskelschmerzen. Nicht ohne Grund kommen die meisten Antikörper erst zum Einsatz, nachdem alle anderen Therapiemöglichkeiten ausgeschöpft sind. Den Forscherdrang bremst das jedoch nicht. „Die Frage lautet immer: Gibt es eine Struktur im Körper, die für die Krankheit eine wesentliche Rolle spielt, und können wir sie mit einem Antikörper binden?“, sagt Prof. Löw-Friedrich. Seit 2004, so das Paul-Ehrlich-Institut, befinden sich insgesamt etwa 150 neue Antikörper in der klinischen Entwicklung. Damit steht fest: Die Medizin hat noch viel vor mit dem kleinen Ypsilon.