
Der Wunsch nach einer glatten Stirn hatte die Frauen in die Arztpraxis geführt. Doch wenige Tage nach ihren Besuchen offenbarte sich eine verblüffende Nebenwirkung. Bei den Beauty-Kundinnen, die mit einer Depression kämpften, nahm die Niedergeschlagenheit ab – das Botox milderte nicht nur die Falten, sondern auch Stimmungstiefs.
Überraschung: Nicht nur das jüngere Antlitz macht glücklich, sondern das Mittel selbst Regelmäßig erlebten Patienten in den vergangenen Jahren, dass sich Angst und Traurigkeit besserten, sobald die Mimikfalten lahmgelegt wurden. Schließlich erforschten Spezialisten aus Deutschland und der Schweiz das Phänomen genauer: Sie spritzten 30 Patienten entweder Botulinumtoxin („Botox“ ist nur einer von mehreren Markennamen) oder ein Placebo-Medikament in die Stirn. Anfang dieses Jahres stellten die Wissenschaftler ihre Ergebnisse vor. „Bei 60 Prozent der behandelten Patienten hatte sich die Schwere der Depressionssymptome nach sechs Wochen mindestens halbiert“, so Prof. Tillmann Krüger von der Medizinischen Hochschule Hannover. „Nach einer einmaligen Gabe hielt die Wirkung mehrere Monate an.“
Weitere Studien müssen den positiven Effekt noch bestätigen, doch unabhängig davon steht jetzt schon fest: Dank seiner Eigenschaft, Muskelfasern zu blockieren, hat der Glamourstoff eine erstaunliche Karriere in der seriösen Medizin hingelegt. Botox bessert Schiefhals und Krämpfe des Augenlids, zähmt überaktive Blasen und stoppt extremes Zähneknirschen. Auch bei übermässigem Schwitzen setzen Ärzte auf die Botox-Spritze. Und gerade wurde die Botox-Therapie bei schwerer Migräne zugelassen. „Das Mittel ist ein Glücksgriff“, sagt der Neurologe Prof. Wolfgang Jost von der Deutschen Klinik für Diagnostik in Wiesbaden. „Gerade für Patienten, die an Nerven-Muskel-Krankheiten leiden, hat es das Leben zum Besseren gewendet.“ Zuvor stand den Medizinern häufig keine Therapie zur Verfügung. Das Geheimnis des Medikaments: Es beeinflusst den Botenstoff Acetylcholin. „Diese hormonähnliche Substanz überträgt an die Muskeln den Befehl, sich zusammenzuziehen“, erklärt Prof. Jost. „Auf dem gleichen Weg aktiviert Acetylcholin die Speichel- und Schweissdrüsen.“
Muskelentspannung verhindert Schmerzen
Wird Botox in einen Muskel gespritzt, hemmt das die Ausschüttung von Acetylcholin an den Enden der Nerven , die dort andocken. Die Straff-dich-Botschaft bleibt aus, der Muskel erschlafft und eine schmerzhafte Verkrampfung löst sich auf. Das klingt harmlos, doch hinter dem Superstar-Medikament versteckt sich ein Nervengift wie aus einem James-Bond-Film. Schon zwei milliardstel Gramm des Wirkstoffs lähmen die Atemmuskulatur eines Menschen – er erstickt.
Ein Esslöffel voll, in die Wasserversorgung geträufelt, genügt angeblich, um Berlin zu entvölkern. Eine dramatische Vorstellung, doch glücklicherweise bleibt das Schreckens-Potenzial von Botulinumtoxin eine Sache von Krimiautoren. Das Toxin zerfällt bei Kontakt mit Sauerstoff relativ rasch und lässt sich gentechnisch nur mit sehr hohem Aufwand herstellen.
Überdosierungen des Nervengiftes bei der Behandlung sind praktisch unmöglich
Deutlich realer ist die Gefahr einer Lebensmittelvergiftung. In der Natur wird das Nervengift von einem stabförmigen Bakterium namens Clostridiumbotulinum produziert, das sich in verdorbenen Konserven (Achtung, gewölbter Deckel!) oder umfangstarken Lebensmitteln tummelt, in deren Innerem es ohne Sauerstoff prächtig gedeiht. Sein Name leitet sich vom lateinischen Wort „botulus“ (Wurst) und dem griechischen „toxikon“ (Gift) ab. Doch dank Kühlschränken und Lebensmittelüberwachung ist diese Gefahr in der heutigen Zeit begrenzt.
„Im medizinischen Alltag spielen Nahrungsmittelvergiftungen mit Clostridiumbotulinum keine große Rolle mehr“, schreibt der Münchner Dermatologe Dr. Harald Bresser in seinem Patientenratgeber „Das Botox-Buch – Gift oder Wundermittel?“ (mit Eva Mahle, Aurelia Verlag, 126 Seiten, 12,90 Euro). In der täglichen Praxis stufen Experten das Bakteriengift sogar als besonders sicher ein, denn für medizinische und kosmetische Anwendungen wird die Stammlösung milliardenfach verdünnt.
Neurologe Jost: „Bei den meisten Medikamenten kann eine Überdosierung lebensgefährlich sein. Nimmt der Patient das Doppelte, Vierfache oder Zehnfache der verschriebenen Menge, stirbt er womöglich. Bei Botox müsste der Arzt aus Versehen vierzig Ampullen spritzen statt einer.“ Das heißt natürlich nicht, dass die Anwendung von Botulinumtoxin harmlos ist. Patzt der Arzt bei der Behandlung von Lidkrämpfen, kann das zu hängenden Augenlidern führen. Nach einer Schiefhals-Behandlung klagen manche Patienten über eine erschwerte Kopfhaltung oder Abgeschlagenheit. Bei der Behandlung von krankhaften Schweißhänden kann die muskelentspannende Spritze auch den Daumenmuskel lähmen, wenn der Behandler zu hoch dosiert hat oder zu tief in die Hand spritzt.
Botox: Das zahlt die Krankenkasse
Die Botox-Wirkung hält nie dauerhaft an
Die gute Nachricht: Glücklicherweise verschwinden solche seltenen Nebenwirkungen mit der Zeit. Und die schlechte: Auch der segensreiche Effekt des Medikaments verpufft nach drei bis sechs Monaten. Das liegt daran, dass körpereigene Enzyme das Botulinumtoxin im Körper zerlegen, sodass die lahmgelegten Muskeln oder Drüsen ihre Funktionstüchtigkeit zurückerlangen. „Dabei wird das Botox vom Körper vollständig abgebaut“, versichert Prof. Jost. „Die Behandlung kann anschließend beliebig oft wiederholt werden, gerade weil keine Langzeitnebenwirkungen auftreten.“
Eine Langzeitnebenwirkung macht sich bei etlichen Botox-Patienten allerdings durchaus bemerkbar: Ihr Kontostand verringert sich spürbar. Rund 400 Euro – je nach Erkrankung und benötigter Dosis auch mehr – fallen für eine Spritze an. Ob die Krankenkasse die Kosten übernimmt, hängt von der jeweiligen Störung ab und von der Schwere des Leidens. Vorausgesetzt wird überdies, dass Botulinumtoxin als offizielles Medikament für die Erkrankung zugelassen ist. „Bei etlichen kleineren Anwendungen lohnt es sich für den Hersteller nicht, das aufwendige Zulassungsverfahren zu beantragen. Die Behandlung ist dennoch legal und sinnvoll, muss aber selbst bezahlt werden“, erklärt Prof. Jost. Nicht umsonst, aber vergeblich ist die Botox-Spritze bei etwa jedem 100. Patienten: Die Betroffenen reagieren überhaupt nicht auf das Medikament, weil ihr Organismus Antikörper gegen das Nervengift bildet.
- Bei diesen Erkrankungen ist Botox als Medikament zugelassen und kann von den Krankenkassen bezahlt werden: chronische Migräne, halbseitiger Gesichtskrampf, Lidkrampf, Schiefhals, Armspastik nach Schlag anfall, übermässiges Schwitzen in der Achselhöhle, neurogene Blasenstörung, Spitzfuß bei Kindern mit frühkindlicher Hirnschädigung.
- Bei anderen Erkrankungen besteht noch keine Zulassung, obwohl die Wirksamkeit durch Studien oder langjährige Erfahrung nachgewiesen ist: zum Beispiel starker Speichel- und Tränenfluss, chronische Rückenschmerzen, Zähneknirschen.
ADRESSEN & TIPPS
Medizinischer Rat: Viele Universitätskliniken bieten Spezialsprechstunden oder Ambulanzen für die Botox-Behandlung an. Oder wenden Sie sich an: Arbeitskreis Botulinumtoxin der Deutschen Gesellschaft für Neurologie. Prof. Dr. Jost, Deutsche Klinik für Diagnostik in Wiesbaden, Tel. 06 11/57 73 21
Bei Migräne kann Botox vorbeugen
Seit September 2011 ist Botox auch zur Behandlung chronischer Migräne zugelassen: Damit existiert erstmals eine wirksame Vorbeugung gegen die gefürchteten Kopfschmerzattacken. Zwar können die prophylaktischen Spritzen die Migräne nicht wegzaubern, doch sie lindern die Symptome bei zwei Dritteln der Behandelten: Die Anfälle treten seltener auf und verlaufen weniger intensiv.
Wie wird behandelt? Bei der Sitzung injiziert der Arzt Botox in bestimmte Bereiche der Kopf- und Halsmuskulatur. Das entspannt nicht nur die betroffenen Muskeln, sondern blockiert auch Schmerzsignale, vermuten Neurologen. Der Effekt hält etwa drei Monate an, dann muss neu gespritzt werden.
Für wen und wo? Voraussetzung für die Behandlung ist, dass keine andere Therapie geholfen hat. Angeboten wird die Botox-Therapie von Neurologen, die sich auf die Behandlung schwerer Migräne spezialisiert haben.