
Als meine Mutter so alt war wie ich heute, nämlich 39, war das ganze Leben eine deutlich übersichtlichere Angelegenheit. Weder gab es 17 Kaffee-Varianten noch 27 Fernsehkanäle, wenn auf einem Film „Woody Allen“ draufstand, war auch Woody Allen drin, und wer sich krank fühlte, ging zu seinem Hausarzt. Der erkundigte sich erst mal, wie es den Kindern in der Schule ging und was das Herz der Schwiegermutter machte. Dann murmelte er etwas auf Lateinisch und stellte schließlich ein Rezept für ein Medikament aus, das helfen sollte. Manchmal tat es das. Manchmal nicht.
Und weil es das so häufig auch nicht tat, und weil mit jeder neuen Gesundheitsreform die nette Plauderei über den Rest der Familie kürzer ausfiel, machen seit dieser Zeit immer mehr Alternativmediziner dem Rezepteschreiber mit der unleserlichen Handschrift Konkurrenz. Wer sich heute nicht wohl fühlt, muss sich zusätzlich den wehen Kopf zerbrechen: Wohin mit mir? Soll ich chinesischen Kräutersud trinken, mir Öl auf die Stirn kippen oder mir beim Osteopathen den Nacken kraulen lassen? Einen Kinesiologen konsultieren, der am Schlappheitsgrad meiner Muskeln verschleppte Infekte erkennt? Oder kann ich selbst herausfinden, was mir fehlt, wenn ich mir im Spiegel tief in die Augen schaue und das Ergebnis mit den Fotos in „Iris-Diagnose für Dummys“ vergleiche?
Wer sich heute auf dem boomenden Markt der Alternativmedizin umsieht, fühlt sich wie ein 50-Jähriger beim Blick ins Live-Musik-Programm einer großstädtischen Szene-Zeitschrift: gleichzeitig begeistert und ein bisschen beschämt, weil er von zwanzig Bands höchstens zwei vage kennt. Dabei ist es natürlich eine feine Sache, dass Schulmedizin nicht mehr der Weisheit letzter Schluss ist. Meine Mutter hat seit einer Eigenblutbehandlung vor ein paar Jahren kein Schnupftuch mehr gebraucht. Höchstens für die Rührungstränen nach der Geburt ihrer Enkel. Und, apropos: Ohne die Hilfe von ein paar Akupunkturnadeln hätte mein Sohn wohl deutlich länger gebraucht auf seinem Weg in die Welt. Auch wenn’s gemein ist, wenn einen die Hebamme während der Wehen auch noch in Knie und Zeh sticht.
Der Trend zum Zweit- und Drittarzt bekommt allerdings manchmal einen merkwürdigen Unterton. Und zwar bei einem bestimmten Typ Frau, der beinahe sportlichen Ehrgeiz entwickelt bei der Suche nach dem Gesundheits- Kick. Passt ja auch gut in Zeiten der weltweiten Krise: Wenn es trendy ist, selbst gebackenes Brot von laubgesägten Holzbrettchen zu essen, dann wird das eigene Innenleben, seelisch wie körperlich, plötzlich wichtiger als der nächste Fabrikverkauf beim Lieblingsdesigner. Würden sich die vier Damen von „Sex and the City“ heute noch einmal zum Brunch in Manhattan verabreden, würden sich ihre Gespräche etwa so anhören: „Also, wenn du jemals Rückenprobleme hast: dieser Wellhornschneckensud aus Chinatown…“ – „Das ist mir zu wenig ganzheitlich. Ich hab nachher noch ein Date bei meiner Heilerin in der Bleecker Street, zum Chakren-Öffnen.“ Ich für meinen Teil gehe immer noch zu meinem Hausarzt, wenn ich mich krank fühle. Der fragt mich nach den Kindern, und wenn seine Rezepte nicht helfen, empfiehlt er Eigenblut, Yoga und Gespräche. Eine Kreuzung aus Ex-Fernseh-Doc George Clooney und dem Dalai Lama. Ihm bleibe ich treu, genauso wie meiner Lieblingskaffeesorte und meinem bevorzugten Fernsehkanal.