Alltag mit Diabetes

Alltag mit Diabetes

„Zucker“ ist auf dem Vormarsch. Nicht in Form kleiner Verführer, sondern in unserem Blut. Neun von 100 Deutschen leiden an Diabetes. Doch trotz der Diagnose ist heute ein normaler Alltag möglich – wie drei Frauen in VITAL beweisen.

Diabetes© iStockphoto
Diabetes

Es klingt fast zu simpel: Jeder Bissen, den wir essen, liefert unserem Körper Energie. Sie wird in Form von Zucker bis zu den entlegensten Zellen gebracht. Was auch immer ihre Aufgabe ist – ohne diesen Kraftstoff können sie sie nicht erfüllen. Bei 366 Millionen Menschen weltweit ist genau dies der Fall. Sie leiden an Diabetes. Experten fürchten, dass die Zahl der Betroffenen in den nächsten 20 Jahren um bis zu 50 Prozent steigen könnte.
Hauptursachen: Übergewicht, Bewegungsmangel und ungesunde Ernährung. Aber was geschieht bei Diabetes eigentlich genau? Prof. Stephan Jacob, Endokrinologe und Diabetologe in Villingen-Schwenningen, erklärt es so: „Zucker aus dem Blut gelangt nur in die Zelle, wenn Insulin ihm die Tür aufhält.“ Bei einem Typ-1-Diabetes, von dem etwa 350 000 Deutsche betroffen sind, stellt aber die Bauchspeicheldrüse dieses Schlüsselhormon plötzlich nicht mehr her. „Der Zucker staut sich vor der Zelle, und sie selbst verhungert“, so Jacob. „Wird jedoch Insulin von außen zugeführt, öffnet sich die Tür. Alles ist wieder gut.“
Die Erkrankung trifft Alte ebenso wie Junge. Ihre Ursache bleibt oft unklar. Bei einem Typ-2-Diabetes ist Insulinmangel nicht das Problem. Bei sieben Millionen Betroffenen in Deutschland „klemmt die Tür“, ihr Körper reagiert auf das Hormon nicht mehr. In ihrer Not setzt die Bauchspeicheldrüse immer mehr Insulin frei – bis sie nicht mehr kann. Die gute Nachricht: Typ- 2-Diabetes lässt sich durch Bewegung, Abnehmen und ballaststoffreiches Essen häufig verhindern. „Aber auch mit Diabetes ist heute ein normales Leben möglich“, macht Jacob Mut. „Vorausgesetzt, man lässt sich auf die Erkrankung ein, stellt sein Leben etwas um und geht regelmäßig zum Arzt.“

»Da ist Medizin für die Mama drin, damit ihr Körper das Essen besser verarbeiten kann.«

Gotlinde Wiegel© jalag-syndication.de
Gotlinde Wiegel mit ihren Kindern:

So erklärt Gotlinde Wiegel ihrer dreijährigen Tochter Aurelia, was es mit dem „Ding“ auf sich hat, das da auf Mamas Oberarm klebt. Es handelt sich um eine funkgesteuerte und schlauchlose Insulinpumpe. Rund um die Uhr versorgt sie die dreifache Mutter mit dem lebensnotwendigen Hormon. 1994 wurde bei der heute 38-Jährigen ein Typ-1-Diabetes festgestellt. Sie lebt im hessischen Caldern in der Nähe von Marburg. „Die Pumpe bekam ich 2010, als ich das dritte Mal schwanger war“, erzählt sie. „Ich war gleich begeistert.“
Arbeiten, duschen, joggen, schwimmen, mit den Kindern toben – alles kein Problem. Ganz unkompliziert wird die Pumpe auf die Haut geklebt. „Dann sitzt sie absolut fest“, sagt Gotlinde Wiegel. „Alle drei Tage muss ich die Kanüle wechseln. Das ist auch ganz einfach.“ Seit der Diagnose hat sich die ausgebildete Fremdsprachenkorrespondentin immer weiter ins Thema Diabetes eingearbeitet. „Deshalb konnte ich meine Krankheit schneller akzeptieren“, ist sie überzeugt. „Mein damaliger Freund und die Familie haben mich aber auch ganz toll unterstützt.“
Zunächst bekam sie zwei Insuline verordnet: eines mit kurz- und eines mit langfristiger Wirkung. „Das klappte nach einem halben Jahr schon gut“, erinnert sich Gotlinde Wiegel. Ihr Diabetes hielt sie auch nicht davon ab, beruflich noch mal umzusatteln: Seit 2007 ist sie Krankenschwester, körperliche Belastungen und Schichtdienst inklusive. „Nur vom Nachtdienst bin ich ausgenommen“, erzählt sie.
Sechs- bis siebenmal am Tag checkt Gotlinde Wiegel ihre Werte. „Die kann ich gut einschätzen“, sagt sie gelassen. „Wenn ich merke, dass es bis zur nächsten Mahlzeit doch länger dauert, nehme ich einfach noch etwas Traubenzucker.“ Nur als sie schwanger war, fühlte sie sich durch den Diabetes stärker eingeschränkt. „Ich konnte die Zeit nicht so genießen, wie ich es gerne getan hätte. Jedes Essen musste abgemessen und einmal pro Stunde der Blutzucker kontrolliert werden. Immer aufpassen, das war einfach anstrengend.“ Nun, wo der Jüngste anderthalb ist, zieht es Gotlinde Wiegel wieder auf ihre Station in der Gynäkologie. Ihre Insulinpumpe ist natürlich immer mit dabei. „Bei meinem Job ist das einfach ideal.“

Die Krankheit mit Humor nehmen

»Sind wir hier bei den Anonymen Alkoholikern?!«

Solche flapsigen Sprüche kennt Marlene Göddertz schon, wenn sie sich mit Freunden oder Kollegen trifft und dann keinen Sekt und auch kein Bier trinkt. „Aber meine Tabletten vertragen sich nun mal nicht mit Alkohol“, sagt die 54-jährige Bonnerin pragmatisch. „Da muss man eben durch. Es gibt Schlimmeres.“ Sachlich und vor allem mit Humor, so nimmt die IT-Projektleiterin das Leben mit Diabetes. Die Erinnerung an ein Karnevalserlebnis amüsiert sie bis heute: „Damals spritzte ich noch Insulin. Auf der Damentoilette einer Bar sprach mich dann eine empörte Vogelscheuche an, ob ich als Junkie denn keinen anderen Platz fände. Als ich die Sache erklärt hatte, wurde sie knallrot und stürmte davon.“ Immer wieder hat sie mit ihren Freundinnen an dem Abend darüber gelacht. Dabei war die Diagnose „Diabetes Typ 2“ damals noch nicht lange her.
Es begann im Februar 2010. Marlene Göddertz hatte ständig Durst. „Und ich wurde immer dünner“, erinnert sie sich. Als ihr eines Morgens die Uhr vom Handgelenk fiel, erschrak sie. „Meine Mutter und meine Oma hatten auch Diabetes. Deshalb ging ich in die Apotheke und besorgte mir einen Blutzuckertest.“ Schon bei der ersten Messung waren ihre Werte doppelt so hoch wie der empfohlene Wert. „Am Nachmittag lag er sogar noch 200 Einheiten höher“, erzählt Marlene Göddertz. „Dass mein Diabetes-Risiko hoch war, wusste ich ja. Aber dass es mich so früh treffen würde, damit hatte ich nicht gerechnet. Schließlich bin ich kein übergewichtiger Bewegungsmuffel.“
Heute ist Marlene Göddertz dankbar für die frühe Diagnose. „Lieber ein Schuss vor den Bug als eine im Stillen fortschreitende Krankheit mit unumkehrbaren Folgen“, sagt sie mit Nachdruck. In der Diabetes-Schulung traf sie auf viele, die ihre Erkrankung nicht ernst nahmen und einfach so weitermachten wie vor der Diagnose. Für Marlene Göddertz völlig unverständlich. Sie selbst setzt seitdem auf Yoga und Laufen. Mit einer Gruppe vom „Diabetes Programm Köln“ nahm sie im Oktober 2011 sogar am Köln-Marathon teil. „Ich werde ganz kribbelig, wenn das Training mal ausfällt“, sagt sie lachend. „Das ist so ein toller Ausgleich zum Stress im Job.“ Sich nur auf ihre Tabletten zu verlassen käme Marlene Göddertz nie in den Sinn. „Sogar meinen Hang zu Süssem habe ich reduziert.“ Das zeigt Wirkung. Auf die Cholesterinsenker kann sie inzwischen verzichten.

»Das ist meine Krankheit. Da lasse ich mir von niemandem reinreden.«

Für diese selbstbewusste Einstellung hat Elke Beiswenger einige Jahre gebraucht.

Elke Beiswenger© jalag-syndication.de
Elke Beiswenger:

In der ersten Zeit nach ihrer Diagnose verzichtete die heute 53-Jährige komplett auf Brot, weil sie so wütend auf ihren Körper war, der sie zum Broteinheiten-Zählen zwang. „Inzwischen weiß ich so viel über meinen Diabetes, dass ich mit jeder Situation klarkomme“, sagt sie gelassen.
Ihr Diabetologe konnte ihr gerade wieder bestätigen, dass sie nach 32 Jahren mit Typ-1-Diabetes keinerlei Folgeschäden hat. „Meinem Augenarzt mache ich schon die Statistik kaputt“, erzählt die gelernte Steuerfachgehilfin und lacht. Sie schreibt das dem Sport und ihrer konsequenten Ernährung zu. „Auf meine Figur habe ich schon immer geachtet. Da musste ich mich gar nicht so umstellen.“ Ein Schock war die Diagnose natürlich trotzdem. Mit 21 und gerade frisch verheiratet.
Bis heute muss die Tuttlingerin den Kopf darüber schütteln, wie wenig Ärzte damals über Diabetes wussten, wie schlecht die Aufklärung war. Sie selbst erfuhr anfangs nicht einmal, dass ihr Körper kein Insulin mehr bilden konnte. Dafür hieß es sofort: „Also, Kinderkriegen ist nicht!“ – eine Fehleinschätzung. „Zum Glück suchte ich mir in der zweiten Schwangerschaft einen Spezialisten. So habe ich viel über Diabetes gelernt.“ Nach der dritten Geburt wechselte sie die Therapie: „Um beim Sport nicht zu unterzuckern, musste ich so viel essen, dass ich immer dicker wurde.“
Da fiel die Entscheidung für eine moderne Insulinpumpe. „Der erste Tag damit war furchtbar. Ich fühlte mich so abhängig.“ Doch dann gab sie der Pumpe einen Spitznamen, und irgendwann wurde sie zum selbstverständlichen Begleiter. „Wann und was ich esse, kann ich jetzt spontaner entscheiden. Und ich bin noch viel leistungsfähiger.“ Offen und offensiv geht Elke Beiswenger mittlerweile mit ihrer Erkrankung um, gibt Diabetiker-Sportkurse, klärt auf und engagiert sich als Schwerbehinderten-Vertreterin. „Mit den richtigen Informationen kann man den Diabetes viel schneller akzeptieren und gut damit leben.“

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